Fragebogen zur AAG

Gerold Aregger

Umfrage zum Verhältnis zur AAG
Ballenbühl, 27./29. April 2023

Vorbemerkung

Es ist das erste Mal, dass mir jemand aus der AAG die Frage stellt, wie mein Verhältnis als Nicht-Mitglied zu dieser Gesellschaft ist und aus welchen Gründen ich nicht beigetreten bin. Da ich ein Stück weit öffentlich als Anthroposoph in Erscheinung getreten bin und seit Jahrzehnten Redaktor einer anthroposophischen Zeitschrift bin, hätte diese Frage naheliegen können. Ich meine nicht, dass ich ein ‚Missionieren für diese Gesellschaft‘ vermisst hätte – eine Mitgliedschaft ist ja eine persönliche Frage –, aber es hätte vielleicht jemanden interessieren können. (Damit meine ich nicht nähere Bekannte von mir, die meine Geschichte etwas kennen.)

Ich betrachte die folgenden Ausführungen auch beispielhaft; denn ich bin der Überzeugung, dass es vielen Menschen – und ich meine: vielen vielen – so gegangen ist und geht wie mir; natürlich nicht im Einzelnen, aber im Kern. Wie gegangen denn? Ich will versuchen, ein Drama in Worte zu fassen.

I. Eine begriffliche Begründung

Das Geistesleben wird zur grossen Tyrannei, wenn es überhaupt auf der Erde sich ausbreitet, denn ohne dass eine Organisation eintritt, kann es sich nicht ausbreiten, und wenn eine Organisation eintritt, wird sogleich die Organisation zur Tyrannin. Daher muss fortwährend in Freiheit, in lebendiger Freiheit gekämpft werden gegen die Tyrannis, zu der das Geistesleben selber neigt.“

Das sagt Rudolf Steiner im sog. Schweizer Rednerkurs in jenem grundlegenden 4. Vortrag in Dornach (14. Oktober 1921, GA 239, S. 72).

In diesem Zitat liegt für mich die knappestmögliche und präziseste Begründung, weshalb ich nie Mitglied der AAG geworden bin. Natürlich lernte ich dieses Wort erst viel später kennen, als ich der Anthroposophie und danach Vertretern der anthroposophischen Gesellschaft begegnet bin. Der Umgang mit dem Dilemma, welches da sozialwissenschaftlich beschrieben wird – oder vielmehr: der Nicht-Umgang damit –, hat mich von der anthroposophischen Gesellschaft ferngehalten. Für mich ist das oben Beschriebene – darf man es ein Gesetz nennen? – eine der erschütternsten Aussagen der anthroposophischen Sozialwissenschaft. Ich fand sie im Leben hundertfach bestätigt (Siehe auch den Bund der freien Waldorfschulen). Aber, was mich ebenso erschütterte: eine solche grundstürzende Aussage scheint niemanden der Verantwortlichen zu interessieren.

Eine Gesellschaft, die den individuellen und sozialen Erkenntnisweg fördern will, die auf Selbsterkenntnis gründet, die nicht interessiert ist an ihrer eigenen Selbsterkenntnis? (Lorenzo Ravagli kam vom fehlenden Geschichtsbewusstsein hinsichtlich der eigenen Institution auf diesselbe Frage.) Da tun sich Abgründe auf. Das zu bemerken, ist ein schneidender Schmerz. Christliche Esoterik beruht auf Wahrhaftigkeit. Was tut nun der Mensch, wenn er einer solchen sozialen Schizophrenie begegnet?

Ich spreche hier absichtlich von Gesellschaft als Subjekt. Nur so stimmt, meine ich, diese Aussage. Ich weiss, dass es Mitglieder und sogar Repräsentanten der anthroposophischen Gesellschaft gibt, und wohl gar nicht wenige, welche den beschriebenen Zwiespalt wahrnehmen und in der einen oder andern Weise sogar öffentlich angesprochen haben, zum Beispiel Manfred Schmidt-Brabant, oder Sergej Prokofieff, um zwei Namen aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen. Welche sogar mehr oder weniger in den Kampf eingetreten sind, ihn zu überwinden. Ich schreibe trotzdem so, weil meiner Beobachtung nach es bisher noch nie so war, in den letzten knapp hundert Jahren, seit dem Tode Rudolf Steiners, dass die leitenden Vertreter der Gesellschaft im ganzen Gremium das Problem benannt hätten.

II. Wie hat mein Leben gesprochen?

Als ich Student der Sozialwissenschaften (Soziologie, Volks- und Betriebswirtschaftslehre, Philosophie) in Bern war (1970-74), gab es einen Prof. Tlach am betriebswirtschaftlichen Institut, der in Kontakt mit dem niederländischen NPI stand und in diesem Zusammenhang am Rande auch Rudolf Steiner erwähnte. Gleichzeitig hatte ich eine Freundin, die dann nach Dornach zog und da die sozial- und heiltherapeutische Ausbildung machte. Selber war ich politisch aktiv (späte 68er Bewegung) und gleichzeitig psychologisch und esoterisch interessiert – was damals eigentlich nicht zusammenging. Govinda, Aurobindo, Krishnamurti, Castaneda, solche Autoren las ich, und auch Rudolf Steiner. Nach Abschluss des Studiums (lic. rer. pol.) ging ich mit selbstverdientem Geld auf Weltreise – und blieb in Deutschland hängen. In Berlin nämlich, beim Besuch der besagten Freundin, entdeckte ich im Büchergestell ihres Freundes Bücher von diesem Steiner, aber jetzt zu politischen Themen. Was, dieser Eingeweihte hat über soziale und wirtschaftliche Themen auch gesprochen? Das war mein Erweckungserlebnis. Kurz darauf begegnete ich im Forum Kreuzberg Peter Schilinski – der mich in die ‚Alte Post‘ nach Achberg (Inka) einlud. Da ging ich hin und lernte nun meine ersten Anthroposophen im Fleisch kennen – und entsprechend Konflikte. Da war es auch, dass mir diese damals aufsehenerregende Aufsatzreihe von J.W. Ernst Die Zukunft unserer Zivilisation und die kommende Kultur des 21. Jahrhunderts in der Zeitschrift Die Kommenden begegnete. Diesen Mann musste ich besuchen. Ich schrieb ihm, kam an bei ihm und fragte und fragte, die halbe Nacht und weiter. Er erzählte mir, dem Novizen, seine und seiner Frau Lebensgeschichte: wie es ihnen als ‚Meistersprachschüler‘ von Marie Steiner in Dornach und weiter erging. Oh… (Später habe ich gemerkt, dass einzelne Urteile von ihm zu anthroposophischen Persönlichkeiten unhaltbar sind.)

Dann reiste ich weiter, zu Freunden bei Göttingen, machte einen Autostop-Rundtrip in den USA, besuchte Anthroposophen da und andere Menschen, kam zurück, nach drei Jahren, in die Schweiz, setzte mein Studium der Sozialwissenschaften fort: im Leben, in der Praxis. Wir gründeten genossenschaftlich ein kleines Vollwert-Restaurant in der Berner Altstadt. Aus Wirtschaftstreffen an diesem Ort mit Udo Herrmannstorfer entstand die Pensionskasse CoOpera. Ab 1992 übernahm eine Gruppe die Redaktion der Zeitschrift Gegenwart, bevor ich Alleinredakteur wurde. Nebenbei arbeitete ich zusätzlich in einem Heim für erwachsene seelenpflegebedürftige Menschen in Langenbruck.

Bald merkte ich dann, hinsichtlich der ‚Anthroposophenschaft‘, dass es nicht so ist, dass hier die Aussenseiter, die Dissidenten = die Guten standen, und da die Gesellschafts-Anthroposophen = die Bösen. Seit langem sind die meisten meiner Freunde Mitglieder dieser Gesellschaft oder sogar Funktionäre in ihr.

Für mich wurde diese Gesellschaft so etwas wie ein soziologisches Studienobjekt. Aber nicht im kühlen akademischen Sinn, sondern im Goetheschen: ‚mit heissem Bemühn’… Ich befasste mich über Jahre mit der Statutenfrage, lernte die entsprechenden Exponenten und ihre verschiedenen Positionen ziemlich alle kennen. Und beobachtete den Fortgang dieser Tragödie: der anthroposophischen Gesellschaftsgeschichte – wie Vorstände kamen und gingen. Wie Themen angeschnitten und abgeschmettert wurden. Wie es im Goetheanum zuging. Wer Vorstand wurde und wer nicht. Was in der Wochenschrift Das Goetheanum erschien und was nicht. Manche der am Goetheanum Tätigen kannte ich persönlich, es ergab sich so. Manche wollte ich kennenlernen. – Viele der anthroposophischen ‚Aussenseiter‘ lernte ich persönlich kennen. Auch natürlich im Zusammenhang mit meiner redaktionellen Tätigkeit. In der Gegenwart versuchte ich, über manche Gräben hinweg, einige der sich widersprechenden Stimmen wenigstens insofern zu ‚verbinden‘, als sie im selben Blatt erschienen. Da und dort gelang sogar ein kultiviertes Streitgespräch, selten zwar. – Eine Redaktion hat ja die Aufgabe, denjenigen Stimmen Raum zu geben, die etwas zu sagen haben. (Mitgliedschaft oder nicht spielte keine Rolle.)

Wenn ich versuchte, das Feld zu überblicken, kam es mir in der anthroposophischen Welt so vor wie ziemlich überall: „Und dies ist die Frage: warum die grössten Lehrer der Menschheit immer stellenlos sind.“ (Ludwig Hohl, Die Notizen, II,160)

Also die zwei Grundfragen stellten sich mir, wie sie Rudolf Steiner in den Ausführungen zur sozialen Dreigliederung immer wieder hinstellt:

  1. Die Frage nach den Menschen, also: Wer steht an welcher Stelle? Wer bekommt welches Amt? Wie findet diese Auswahl statt? Wie könnte sie aussehen?
  2. Die Frage nach der Einrichtung: die Statutenfrage, die Verfassung einer Schule, die Ausgestaltung eines Heims usw.

III. Meine Gründe des Nicht-Eintretens

Vieles ist bereits gesagt, ich fasse es nochmal anders. Jemand fragt mich: Wenn die meisten deiner anthroposophischen Freunde Mitglieder sind, wenn du dich so sehr interessierst für das Geschick der anthroposophischen Gesellschaft und des Goetheanums, weshalb bist du trotzdem nicht Mitglied geworden? Du weisst doch als Sozialwissenschafter, dass man im Sozialen innerhalb der Retorte steht, dass ein von aussen Besserwissen nicht fruchtet. Fühlst du dich zu gut dafür? – Diese Fragen sind berechtigt. Ich habe sie mir selber ab und zu gestellt. Die einfachste Antwort ist, und sie ist weniger banal, als es scheint: Es hat sich nie ergeben. Ich hatte und fand nie einen Grund bisher, dass ich hätte Mitglied werden wollen. Es gab keinen Anlass dafür. Es hat mich auch nie jemand gefragt. – Hätte das denn etwas geändert? – Es kommt darauf an. – Ist es so einfach? – In gewisser Weise ja.

Nun hole ich trotzdem etwas aus: Ich sah das Problem, ich sah die Not, aber ich sah den Weg nicht, wie ich durch einen Eintritt hätte beitragen können, die Not etwas zu lindern. Das ist wiederum verkürzt. Ich sah schon Möglichkeiten, aber ich sah sie verbaut. Und die Frage war: setze ich meine Kräfte in diesem Kampf ein? Ist es das fruchtbarste? Mir schien es nicht das fruchtbarste zu sein, wie ich meine begrenzten Kräfte einsetzen konnte. Ich wartete aber gewissermassen auch, was das Leben mir sagt. Ob es mir einen Wink gibt: Mach jetzt diesen Schritt. – Ich bekam keinen Wink – es sei denn, ich hätte ihn überhört. Das ist möglich, wenn es mir auch nicht wahrscheinlich erscheint. Wenn ich eine Öffnung gesehen hätte, wäre ich hineingeschlüpft. Umgekehrt erschien es mir so, dass es ganz gut sei, dass da jemand draussen steht und unbefangen beobachten kann. Den Freunden dies und jenes sagen kann. Fragen stellen kann.

Und ständig lebte die Frage in mir: Wie geht es weiter mit der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung? Geht es weiter mit der Gesellschaft? Geht es anders weiter? Ich meine, es ist noch nicht gesagt. Klar ist für mich, dass es eine Bedeutung hat für die Anthroposophie, was am Goetheanum geschieht. Und dass da ein gewaltiger Kampf stattfindet.

Und auch hat es eine Bedeutung, was jeder Anthroposoph tut, wie er sich entscheidet.

Heute, in der Not der Zeit, geht es darum, Arbeitsgruppen, Forschungsgruppen zu bilden für die entscheidenden Fragen. Wie werden sich diese Gruppen miteinander verbinden? Dieser Prozess hat noch wenig angefangen. Soweit ich sehe, arbeiten die fruchtbaren Gruppen bisher ziemlich für sich (mit Ausnahmen vielleicht). Gibt es solche Gruppen auch innerhalb der anthroposophischen Gesellschaft? Ich hoffe es. Die Verbindungen werden sich aus der Logik, dem Sinn der Arbeit selber ergeben. Es muss so sein, auch wenn viele seelische Hindernisse unter Schmerzen zu überwinden sind. Das Arbeitsfeuer wird vieles verbrennen.

IV. Die Situation der Sozialwissenschaftlichen Sektion

Naheliegend wäre, dass ein Sozialwissenschafter in der entsprechenden Sektion mitarbeitet. Wieder die Frage an mich: Weshalb hast du das nicht getan? – Wiederum die Antwort: Weil mich niemand je gefragt hat. Von mir aus sah ich – ich muss mich wiederholen –, keinen Grund, da einzutreten. Ich lernte bei den Lehrern (hauptsächlich Udo Herrmannstorfer, später Jose Martinez), die ich im Leben gefunden habe. Diese Arbeit fand nicht in der sozialwissenschaftlichen Sektion statt.

Ich erlebte bisher drei Leiter dieser Sektion: Manfred Schmidt-Brabant – aber er war kein Sozialwissenschafter und für mich als Mensch zwar interessant, aber nicht so, dass ich bei ihm hätte lernen wollen. Paul Mackay: Ebenfalls kein Sozialwissenschafter. Ich fand seinen Mitarbeiter Ueli Rösch sympathisch, aber sah keine Mitwirkungs-Fruchtbarkeit. Dazu kam der Einsatz für das bedingungslose Grundeinkommen und vor allem die verweigerte sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung darüber. Dazu das Wirken von Paul Mackay in der Weleda, und in den Goetheanum-Entscheidungen. Dann Gerald Häfner: ihn schätze ich. Bisher sah ich aber in der Sektion keine Bildung eines Arbeitszusammenhangs, der sozialwissenschaftlich etwas aufbaut. Auch keine Bemühung, die verschiedenen Gruppen und Positionen zu Auseinandersetzungen zusammenzuführen, mit Ausnahme der Konstitutionsfragen. Ich kenne seine sonstigen Arbeitsfragestellungen nicht, weiss nicht, welche Aufgaben er sich mit der Sektion gestellt hat.

V. Schlusswort

Und ‚die Klasse‘ ist für dich kein Grund, einzutreten? – Darüber möchte ich hier wenig sprechen. Ich habe es eigentlich schon getan. Die Grundlage jeglicher weissen Esoterik ist die Wahrhaftigkeit. Sie geht einher mit der ersten Stufe des christlichen Weges: der Fusswaschung. –

Meine Sicht ist, dass viel aus der Geschichte des Christentums gelernt werden kann und muss. Die Bewegung der Anthroposophie schreibt ein weiteres Kapitel dieser Geschichte. Wir sind gewarnt, und die Warnung ist scharf: im Christentum entwickelte sich die römische Kirche und innerhalb der römischen Kirche, so Rudolf Steiner, eine antichristliche Strömung, die sich Jesuitismus nennt. Die rechnet in grossen Zeiträumen.

Immer war das Christentum gefährdet, und immer gab es die Erneuerer. Das waren meist Aussenseiter. Das Neue kommt aus der Peripherie, ‚von den Rändern‘ (Ludwig Hohl).

Die Weihnachtstagung 1923/24 war der beherzte Versuch Rudolf Steiners, das Dilemma des Eingangszitats zu lösen: die richtigen Menschen an die richtigen Stellen zu setzen. Die Einrichtung so zu gestalten, dass das Machtproblem hätte gebändigt werden können, mit entsprechenden Statuten – und mit einem zentralen und einem peripheren Vorstand (siehe Martin Barkhoff in ENB). Beide Ansätze zerschellten, der zweite trat nicht einmal ins Leben. Die Statuten wurden Literatur, weil die Erweiterung durch die Goetheanum-Einrichtungen missverstanden wurde und Rudolf Steiner inmitten dieses Prozesses verstarb. – Ist das zu heilen? Das sind Selbsterkenntnis-Fragen – wozu gehört, dass selbstverständlich eine Gesellschaft nicht in gleicher Weise funktionieren kann, wenn sie von einem ringsherum anerkannten Eingeweihten geleitet wird und wenn sie von strebenden Anthroposophen geleitet wird. Ich denke, wenn man nicht bereit ist, das ABC zu lernen, werden die Menschen, die bereit stehen, um zu arbeiten, um in den geistigen Kampf zu treten, und manche von denen, welche darin stehen, sich abwenden und Arbeitszusammenhänge suchen oder bilden, wo der Erkenntnisboden gepflegt wird.

Gerold Aregger, geboren am 26. Oktober 1950

Ich danke Thomas und Eva Heck-Lohmann für diese Initiative.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Andreas Heertsch

    Lieber Gerold
    Ich erinnere mich an unser letztes Gespräch: Es ging ja von der von Dir oben erwähnten Frage aus: Warum wirst Du nicht einfach Mitglied? Du hast nun biographisch geantwortet. Da ich mich für diese Korrespondenzblätter beginne (mit)verantwortlich zu fühlen, lass ich mich gern von Deiner Sicht provozieren!

     

    Also Danke für Deine offene Darstellung!
    Ich will versuchen, mit gleicher Offenheit zu schildern, warum ich an den entscheidenden Punkten anders gehandelt habe als Du.

     

    Ich lernte Anthroposophie mit 18 im Internat (Herman-Lietz-Pädagogik) kennen, als mich mein Religionslehrer bei Tisch beim Fasten „erwischte“: Er schickte mich zu Frau Hölzer, der einzigen Anthroposophin im Internat. Sie führte mich nach der Schulzeit in in den Studienkreis von Sigurd Böhm ein. Damit war ich bei den Abtrünnigen gelandet, die nur mit Häme auf Dornach blickten. Zwar habe ich durch die dort gepflegte Strukturarbeit richtig gut Deutsch gelernt, aber auch gemerkt, dass ich mich über die Häme mehr und mehr zu ärgern begann, bis ich schliesslich dort zur Persona non grata wurde und ging.

     

    Mittlerweile hatte sich in Göttingen um Ernst August Müller (damaliger Leiter des Max-Planck-Instituts für Strömungsforschung eine intensive anthroposophische Arbeitsgruppe gebildet, durch die ich dann auch mit Gleichgesinnten in Berührung kam: Wir arbeiteten dann im Freien Hochschulseminar in Tübingen zusammen und bildeten später in Dornach um Jörgen Smit das erste Jugendsektionskollegium.

     

    Paralell lief in Göttingen eine intensive Zweigarbeit: Die Professoren ermunterten uns Studenten, hier Aufgaben zu übernehmen und veredelten dann unser noch anfängliches „Geistgestöber“ zu gediegenen Sichten. Bei einer solchen Gelegenheit fragte mich eine alte Sprachgestalterin (Schülerin Marie Steiners) ob ich denn nun Mitglied sei? „Nein, wieso?“ – „Sie benehmen sich ganz so….“ Hoppla, dachte ich, dann sei mal konsequent. Ich trat als ein in eine Gesellschaft, der Verfassung ich ja schon unter Häme besichtigt hatte. Ich trat ein, weil ich fand: „egal, wie sie ist, wenn etwas nicht stimmt, werden wir das halt in Ordnung bringen….“

     

    Jetzt wirst Du vielleicht fragen: „Und hast du Erfolg gehabt?“ Meine (ausweichende) Antwort: „Ich bin noch dran!“ Wir stammen beide aus den späten 68’igern. Ich bin „den Weg durch die Instanzen“ gegangen – wie es damals hiess. Ich bin dann noch während der Jugendsektionszeit nach Dornach gezogen. Ich fragte damals vorher Jörgen Smit, als er in Göttingen war: „Sag mal, Jörgen, wie ist das in Dornach?“ Er antwortete: „In Dornach wird alles im Lichte der Weihnachtstagung betrachtet – im Guten wie im Schlechten“

     

    Ich habe mich dann bemüht, zu den verschiedenen Vorstandsmitgliedern (ich kenne sie ziemlich alle aus dem „Nahkampf“) ein Arbeitsverhältnis zu finden. Das ist mir (für meine Bewertung) nicht wirklich gelungen (was auch ziemlich an mir lag), sodass ich gegen Ende des Jahrhunderts „in Quarantäne“ gegangen bin: Ich habe bis auf die Zweigarbeit alle Funktionen niedergelegt. Bald kam ich mir vor wie Noah, der immer wieder mal eine Taube ausschickt, um zu sehen, ob sie mit einem Zweiglein zurückkehrt.

     

    Über die Zweigarbeit kam ich dann (auf Zuruf) langsam wieder aus meinem Mauseloch und versuche seit dem in der Allgemeinen Sektion anzuwachsen. In diesem Rahmen kommt es nun zum Engagement für diese Korrespondenzblätter, weil ich meine, dass eine Hochschule eine Plattform braucht, auf der sich ihre Mitglieder über ihre Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig Fehler ersparen können.

     

    Ich sehe die gleichen Schwächen wie Du, durch meine Innensicht vermutlich noch schärfer, aber ich habe mir abgewöhnt, meine Umgebung an meinen vorgeburtlichen Entschlüssen zu messen. Auch ich selber bleibe bei dieser Sicht nur als weitgehender Versager über. Ich sehe in den 50 Jahren, die ich jetzt hier bin, deutliche Entwicklungen: Der Wille zur Verständigung ist über die Jahrzehnte gewachsen. Die Sicht auf Schwächen wird immer mehr zugegeben und daran gearbeitet. Klar – einige haben da noch ziemlich viel „Luft nach oben“, aber das „Hauen und Stechen“, dass in der Kriegsgeneration teilweise nicht zu bändigen war, ist einer Bereitschaft gewichen, den Anderen doch (weitgehend) so zu nehmen, wie er eben ist.

     

    Aber im Blick nach vorn sind wir uns vermutlich einig: Ein Schrittchen weiter, aber noch weit zurück. Und da scheiden sich unsere Geister: Ich sehe die Hochschule als den Wagen, den Michael braucht, um in die Zivilisation zu fahren.

     

    Lass mich mit einem Gedanken enden, der mit vor ein paar Tagen kam, als ich über „Im Geiste find ich so die Welt“ nachdachte: Es heisst eben nicht: ‚In der Welt finde ich so den Geist.‘ D.h. wir brauchen eine Hochschule, die aus dem Geist die Welt findet (diesen Prozess fördert). Ich hab es dann provokant ausgedrückt: Wir brauchen eine technische Hochschule für Geisteswissenschaft! Technik im alten Sinne: (Handwerks)Kunst. Es ist nicht Wissenschaft das Endziel Das hiesse nur die Weissheit des alten Mondes zu reproduzieren. Die Erde als Kosmos der Liebe hofft auf meine individuelle und originelle geistgetragene Zuwendung.

     

    Ich weiss, Du brauchst keine Einladung – aber ich lade Dich trotzdem ein: Wir brauchen Dich in dieser Truppe!

     

    Herzlich Andreas

  2. Gerold Aregger

    Lieber Andreas 13.10.2023
     
    Ich danke Dir für Deine Antwort. Dein Weg hat mich sehr interessiert. Ich verstehe Deine Schilderung gut. Es ist beeindruckend, wie das Leben spielt, und wie jeder Mensch auf seine Weise darauf antwortet. Köstlich finde ich Deinen Satz: „Egal, wie sie ist, wenn etwas nicht stimmt, werden wir das halt in Ordnung bringen…“
    „Hast Du Erfolg gehabt?“, wäre wohl etwas eine Häme-Frage. Aber aus Häme kann Schmerz werden, und aus Schmerz Erkenntnishunger. Ich würde Dich lieber fragen: „Und was sind Deine Erfahrungen da? Was hast Du erlebt?“ – Vielleicht ergibt es sich, dass wir einmal davon sprechen können. Ich denke, Rudolf Steiners Empfehlung, sich gerade für die Fehler des Anderen besonders zu interessieren, gelte auch für soziale Gebilde. Sicher war es nicht so gemeint, dass man dann auf dem anderen herumhackt. Es geht doch darum, das Verstehen zu vertiefen.
     
    Mein Text könnte missverständlich sein. Er ist auf die Umfrage von Thomas und Eva Heck-Lohmann nach den Gründen eines Nichtbeitritts in die anthroposophische Gesellschaft entstanden. Darüber versuchte ich mir Rechenschaft zu geben und es in eine Form zu fassen, die für andere verständlich ist. In der Hoffnung, dass es der anthroposophischen Sache dienen könne. Der Text ist in keiner Weise argumentativ gemeint.
    Im Bild eines geistigen Kampfes um die anthroposophische Gesellschaft: Du hast Dich für den Hauptharst entschieden, für das Zentrum. Ich mich für eine Hilfstruppe am Rande. Aber auch: das Leben hat uns so ‚aufgestellt‘. Je älter ich werde, desto tiefer versuche ich, auf die Lebensstimme und ihre Weisheit zu hören.
    Noch anders gesagt: Der Geistesschüler geht der Arbeit nach. Dorthin strebt er, wo er am tiefsten, am fruchtbarsten arbeiten kann. Da, wo sein Beitrag gefragt ist, da wo er einen Beitrag geben kann.
     
    Du hast Dir einen überaus schwierigen Arbeitsort gewählt. Dafür wäre ich nicht geeignet gewesen. Der Arbeitsort, der sich mir ergeben hat, ist die Zeitschrift Gegenwart, ist die sozialwissenschaftliche Forschungsarbeit, ist anderes. Also Deiner Einladung bin ich längst gefolgt. Ich betrachte mich als Mitglied ‚dieser Truppe‘.
    Die Frage scheint mir wichtig: Können wir einander an den verschiedenen Arbeitsplätzen anerkennen?
     
    Schliesslich noch ein Wort zur Hochschule: Oh, möge es doch eine werden!
     
    Es grüsst Dich
    Gerold

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