Reinkarnation und Karma im doppelten Zeitstrom

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  • Beitrag zuletzt geändert am:10. Dezember 2023
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Impulsreferat – 4. AASIN-Konferenz | Hamburg 22. Oktober 2022

Eine jeweilige menschliche Inkarnation ist stets als das Ergebnis des Zusammentreffens der beiden Zeitströme zu verstehen – analog zu jeder sich ereignenden Gegenwart.

Das Bild dafür ist das der sich überschlagenden und dann brechenden Welle.

Das höhere Ich des Menschen – als solches – ist überzeitlich zu denken; letztlich ist es das die zeitlichen Bedingungen aus dem Überzeitlichen Bestimmende.

Im menschlichen Leben sind aber zwei Art und Weisen erfahrbar, wie es sich der Selbstbeobachtung zeigen kann.

Einmal als stärker mit der Zeitströmung verbunden, die aus der Vergangenheit herkommt und weiter trägt in die Zukunft hinein; einmal stärker verbunden mit der anderen, die dem Menschen aus der Zukunft entgegenkommt und nach dem Ereignis der Gegenwart in das Vergangen-Sein übergeht.

Das bedeutet, das höhere Ich kommt – im ersten Fall – stärker durch die ätherische Organisation des Menschen zum Ausdruck; oder aber – im zweiten Fall – stärker durch die astralische Organisation.[1] Hier geht es um die jungfräuliche, weisheitsvolle, kosmische Astralität.

Die ätherische Organisation trägt uns direkt die Früchte unserer eigenen Vergangenheit zu; die astralische bringt uns aus der Zukunft den Aspekt des höheren Ich entgegen, der mit den zu erfüllenden biographischen Aufgaben zu tun hat.

Diese beiden Aspekte des Ich und ihr Zusammenhang mit Reinkarnation und Karma sind den Schülerinnen und Schülern der Anthroposophie schon aus Rudolf Steiners Schrift „Theosophie“ vertraut.

Denn der erste Aspekt (verbunden mit dem Ätherischen) ist mit all dem verknüpft, was es heißt, dass der Mensch aus seiner seelisch-geistigen Aktivität, ich-haft, Erinnerungen bildet, dass er mit Hilfe derselben lernt, dass er Fähigkeiten entwickelt. Dieser Strom führt hinüber aus einem Erdenleben in ein nachfolgendes, in welchem er dann beispielsweise als die besonderen Fähigkeiten und Begabungen wieder zu Tage tritt, die die betreffende Individualität kennzeichnen.

Der zweite Aspekt wiederum (verbunden mit dem Astralischen) kommt in all dem zum Ausdruck, was einem zunächst als die verschiedenen „Zufälle“ des Lebens erscheinen kann, was einem „zustößt“, was einem „geschieht“ – und gleichsam als von außen auf den Menschen zukommend erlebt wird. Hierher würde auch der sprichwörtliche „Ziegelstein“ gehören.

Rudolf Steiner fasst dies in der „Theosophie“ so zusammen, dass solche Einsichten beim Schüler zu einer charakteristischen Such- und Erkenntnisbewegung führen können:

„Er wird dann [wenn er sich diese Einsichten zu eigen gemacht hat] sein «Ich» nicht nur in seinen von «innen» heraus kommenden Entwickelungsimpulsen suchen, sondern in dem, was «von außen» gestaltend in sein Leben eingreift. In dem, was «ihm geschieht», wird er das eigene Ich erkennen. Gibt man sich solch einer Erkenntnis unbefangen hin, dann ist nur ein weiterer Schritt wirklich intimer Beobachtung des Lebens dazu nötig, um in dem, was einem durch gewisse Schicksalserlebnisse zufließt, etwas zu sehen, was das Ich von außen so ergreift, wie die Erinnerung von innen wirkt, um ein vergangenes Erlebnis wieder aufleuchten zu lassen.“

[2]

Lebensrückblicke – von Zeit zu Zeit – sind demzufolge geeignet, den Sinn für karmische Wirksamkeiten, wie sie das eigene Leben geformt haben und weiter formen, zu schärfen.

Vor dem Hintergrund von Ausführungen über die 4. Dimension stellt Rudolf Steiner das jetzt Nachgezeichnete im Mai 1905 in einen größeren Zusammenhang. Und er führt es zugleich heran an die Geheimnisse der Schwelle und des Hüters der Schwelle. Was er da thematisiert, bezeichnet er ausdrücklich als eine Angelegenheit der „okkulten Schulung“.

Es geht um das Folgende:

Zur okkulten Schulung gehört es, das eigene Karma, insbesondere das Zukunftskarma zu schauen. Dabei handelt es sich um ein Schauen des Astralischen. Hinsichtlich der gegenwärtigen Inkarnation hat dies damit zu tun, dass diese Inkarnation – wie auch die noch folgenden Inkarnationen – gewissermaßen resultiert aus dem Zusammenwirken der beiden Zeitströmungen.

Rudolf Steiner verdeutlicht das anhand einer Zeichnung:

Sie zeigt zwei pfeilförmige Strahlen – für die beiden Zeitströmungen. Eigentlich gehen sie gegenläufig ineinander, doch zur Verdeutlichung sind sie hier auseinander gezogen gezeichnet. Den einen Strahl möge man sich rot, den anderen blau vorstellen. Die vier Punkte auf jedem Strahl (miteinander verbunden gezeichnet) stehen für vier aufeinander folgende Inkarnationen. So wird veranschaulicht, wie jede einzelne Inkarnation aus dem Zusammenwirken der beiden Zeitströme resultiert.

Kommt nun der Schüler an den Ort seiner Entwicklung, da ihm die astrale Welt ansichtig wird, kann er zugleich die Schau seiner künftigen Inkarnationen vor sich haben – die Schau aller Ereignisse, die diese Inkarnationen für ihn bereithalten (bis hin zur Mitte des sechsten großen Zeitraums, denn bis dahin wird er während des Planetenzustands „Erde“ reinkarnieren).

Genau dieser Moment wird von Rudolf Steiner bezeichnet als das Stehen vor der Schwelle. Einige Schüler werden die Schwelle nicht überschreiten, weil sie davor zurückschrecken, all dieser Inkarnationen ansichtig zu werden. Andere werden den Mut dazu aufbringen. Der Mut dazu ist erforderlich, weil, was da aufscheint, durchaus furchteinflößend wirken kann.[3]

Auch dazu ein Zitat aus dem betreffenden Vortrag:

„Wenn der Schüler bis zur Schwelle vorgeschritten ist, dann tritt an ihn die Frage heran: Willst Du dieses alles in der denkbar kür­zesten Zeit durchleben? Denn darum handelt es sich für den­jenigen, der die Einweihung empfangen will. Wenn Sie sich das überlegen, so haben Sie Ihr eigenes zukünftiges Leben in einem Moment als äußeres Panorama vor sich. Das ist wiederum das­jenige, was uns die Anschauung des Astralischen charakterisiert. Dies ist für den einen Menschen so, dass er sich sagt: Nein, da gehe ich nicht hinein. Für den anderen dagegen ist es so, dass er sich sagt: Ich muss hinein. Diesen Punkt der Entwickelung nennt man die «Schwelle», die Entscheidung, und die Erscheinung, die man da hat, sich selbst mit allem, was man noch zu erfahren und zu erleben hat, die nennt man den «Hüter der Schwelle». Der Hüter der Schwelle ist also nichts anderes als unser eigenes künftiges Leben. Wir selbst sind es. Unser eigenes zukünftiges Leben liegt hinter der Schwelle.“

[4]

Das besagte „äußere Panorama“ wird übrigens ausdrücklich angesprochen als ein „astralisches Panorama“.

Ein drittes Motiv soll diese Betrachtung abschließen:

Es handelt davon, dass insbesondere die Wärme das Element zu sein scheint, in dem – in der Sphäre des höheren Ich – Vergangenheitsströmung und Zukunftsströmung ineinander wirken: zu ich-haften Tathandlungen in der jeweils aktuellen Inkarnation.

Der Hinweis darauf findet sich in den Vorträgen von Anfang 1924: „Anthroposophie – Eine Zusammenfassung nach einundzwanzig Jahren“.

Darin wird – am 2. Februar 1924 – entwickelt, wie sich der Selbsterkenntnis das eigene Physische, das Ätherische, das Astralische und das Ich zeigen können, und zwar nach den Ordnungen der Zeit: der physische Leib eindeutig in der jeweiligen Gegenwart; der ätherische Leib als Zeitgestalt in der Erstreckung der eigenen Biographie zwischen Geburt und Tod; der astralische Leib als die Zusammenziehung der Zeiten, die zwischen dem Tod der letzten Inkarnation und der erneuten, diesmaligen Geburt verliefen.

Dem entsprechen aufsteigend die Erkenntnisformen des an die Sinne gebundenen Gegenstandsbewusstseins, des imaginativen und schließlich des inspirierten Bewusstseins (da verweist Rudolf Steiner auf die Sphärenharmonien).

Die Erkenntnis des Ich ist dann – in dieser Perspektive – die intuitive Erkenntnis des Ichs der vorigen Inkarnation.

Dasselbe wird klar unterschieden von dem Ich der jetzigen Inkarnation. Denn dieses bilde sich ja erst. – „Das Ich der gegenwärtigen Inkarnation ist nie fertig; das bildet sich. Das eigentliche, in den unterbewussten Tiefen wirkende Ich ist das des vorigen Erdenlebens.“

[5]

Dasselbe zu erkennen, erfordere einen hohen Grad an Selbstlosigkeit. Ja, gefordert wird hier selbstlose Liebe wie zu einem anderen Wesen. Man müsse seinem früheren Ich liebend gegenüberstehen können – als einem ganz anderen Wesen.

Die Wirklichkeiten, die sich diesen insgesamt vier Erkenntnisformen ergeben, sind die, des

  • Mineralischen
  • Flüssigkeits-Organismus
  • Luft-Organismus
  • Wärme-Organismus

Das bedeutet, im Wärme-Organismus – und zwar vor allem im peripheren Wärme-Organismus – wirkt das Ich der vorigen Inkarnation.

Und hier hat es eine sehr bedeutende Aufgabe. Denn nur das in der peripheren Wärme-Organisation lebende Ich der früheren Inkarnation vermag es, moralische Impulse, moralische Intuitionen zu ich-haften Tathandlungen in die Willens-Organisation, in das Gliedmaßensystem des heutigen Menschen überzuleiten.[6]

Diese Tathandlungen sind zukunftsgerichtet und gehören in den Bereich des Zukunftskarmas.

So wird hier von Rudolf Steiner auf eine Wirklichkeit verwiesen, in der die Polarität von Vergangenheit und Zukunft, altem Karma und neuem, zukünftigem Karma zu Höherem gesteigert wird.

Der oder die Übende kann sich daher veranlasst finden, die Selbstbeobachtung auf biographische Gelegenheiten zu erstrecken, da sie oder er Erlebnisse hatte, die wie getragen waren von erhöhten Wärmezuständen, z. B. in der Wärme einer echten Begeisterung, und durch die das eigene Schicksal womöglich eine entscheidende, nachhaltige Wendung genommen hat.

Oktober 2022


[1] Vgl. GA 115, Vortrag 4. November 1910

[2] GA 9 (1987) S. 83

[3] Vgl. GA 324a, Vortrag 17. Mai 1905

[4] GA 324a (1995) S. 38 f.

[5] GA 234 (1994) S. 95

[6] Vgl. den zuletzt genannten Vortrag, Dornach, 2. Februar 1924

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