Zum „Schema des Idealmenschen“ bei Novalis

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  • Beitrag zuletzt geändert am:24. Oktober 2023
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Johannes Voigt

Die folgende Ausführung stützt sich im wesentlichen auf das erste Kapitel der Dissertation Florian Roders (1958 – 2020), die 1997 bei Mayer unter dem Titel „Die Menschwerdung des Menschen – Der magische Idealismus im Werk des Novalis“ herausgegeben worden ist. In diesem Kapitel wird die grundlegende Bedeutung des Novali’schen Geniebegriffs als dem eigentlichen „magischen Idealisten“ herausgearbeitet. Das wahre Genie erscheint als die den magischen Idealismus ausübende „ewige Individualität“ des Menschen. Es ist der Verdienst Florian Roders, die auf den ersten Blick ungeordnet erscheinenden Äusserungen Novalis‘ zu dieser zentralen Frage in ihrer Bedeutung erkannt und in eine möglichst klar zugängliche Form gebracht zu haben.

Im Vordergrund steht für Novalis die Frage nach der „Offenbarungsfähigkeit des Menschen“, nach einer „Begabung für produktive Einfälle“. Das heißt einerseits seine Fähigkeit, Inspirationen wach zu empfangen und intuitiv zu verstehen, gleichzeitig aber auch, sich aus einem entwickelten „divinatorischem Sinn“ heraus an ihrer künstlerischen Verwirklichung schöpferisch zu beteiligen. Von Beginn an spricht Novalis im Hinblick auf die Entwicklung dieser Fähigkeit, von einer aufsteigenden „Bildungslehre des Genies“ und von einer sich der Welt zuneigenden „Konstruktionslehre des schaffenden Geistes“. Diese nie auf Einseitigkeiten zielende und als „Wechseldurchdringung des Geistes“ zutiefst in Novalis‘ Denken und Schaffen verankerte Doppelgeste muss betont werden. Was Novalis in Anlehnung an Fichte „Schweben“ nennt, bezeichnet die geniale Fähigkeit des Menschen, sich zwischen den unendlichen Möglichkeiten von Welterscheinung und Geist frei und willentlich in der „Schwebe“ zu halten. Dennoch kann insofern von einem tendenziellen Primat des Geistes gesprochen werden, als daß Novalis fordert, alles Unwillkürliche solle in höherem Sinne und aus bewusstem Selbstergreifen des wahren Menschenwesens heraus willkürlich, alles Natürlichere solle in Kunst verwandelt werden. Daraus ergibt sich, dass wenn hier von einem „Schema“ oder einem „System“ gesprochen wird, es nicht um eine starre und unausgesetzt gültige Form gehen kann. Wonach Novalis sucht, nennt er selbst ein „System der Systemlosigkeit“, das heißt, er sucht nach einer kritischen Gliederung des Weges, auf welchem ein seinem Wesen nach formal völlig Ungebundenes zu einer ihm entsprechenden Gestaltausbildung finden kann.

Die entscheidenden Ausserungen, aus denen Florian Roder das Idealschema „destilliert“, finden sich im sog. „Allgemeinen Bouillon“, an dem Novalis zwischen Sept. 1798 und März 1799 in Freiberg schrieb, sowie in dem diese Zeit begleitenden Briefwechsel mit Friedrich Schlegel. Besonders herauszuheben ist hier der Brief von Novalis an Letzteren vom 7. Nov. 1798.

Die von Florian Roder herausgearbeitete schematische Gestalt setzt sich aus drei auf einander aufbauenden Triaden zusammen und sieht wie folgt aus:

1. Triade: Naturstand

1. Kind
2. Junger Mensch
3. Erwachsener

2.Triade : Naturmensch

1. Naturmensch
2. Theoretiker und Praktiker („Gelehrter“)
3. Gebildeter Mensch ober Systematiker

3.Triade: Genialer Mensch

1. Behauptendes Genie
2. Polemisches Genie
3. Synthetisches Genie: höchster gebildeter Mensch

Wichtig ist, das Novalis genau in der Mitte des Schemas einsetzt, auf jener Entwicklungsstufe, welche unserem gegenwärtig gewöhnlichen Bewusstseinszustand entspricht. Auf die vorhergehende Stufe wird immer reflektiert, zur Höheren steigt der sich entwickelnde und bildende Mensch durch sein Bedürfnis nach Synthese der sich ergebenden Gegensätzlich-keiten auf.

Nun, wir alle sind heute in gewisser Hinsicht „Gelehrte“, die sich Gedanken über ihre Lebenssituation machen und in ihr versuchen einen unseren Veranlagungen entsprechenden Weg zu finden. Dabei werden wir durch den „Schicksals- oder Leibespraktiker“ in uns immer wieder vor vollendete Tatsachen gestellt, die unser innerer Theoretiker verarbeiten muss. Der bloß reagierende Denker hinkt den von Seiten des Naturmenschen gegebenen Lebenstatsachen hinterher und der Einzelne neigt zunächst dazu, sich entschieden auf einer der beiden Seiten zu positionieren. Auf schlichtester Stufe „Gelehrte“ sind wir hier deswegen, weil wir uns reflektierend auf die praktischen Lebensumstände, denkend entscheiden. Wir werden „aus Prinzip“ entweder mehr Praktiker oder mehr Theoretiker. Diese innere Auseinandersetzung schlägt sich auch prägend im äusseren Kulturleben nieder, wo sich praktisches und theoretisches Lager tendenziell feindlich gegenüberstehen. Auf einer höheren Stufe der Reflektion, versucht nun der „Systematiker“ die ihm zugänglich gewordenen Lebenszusammenhänge zu überschauen und in einer gültigen und gesetzmässigen Ordnung zu „synthetisieren“. An diese Stelle gehören alle großen und kleinen Welterklärungsversuche.

Nun betreten wir ein für die Bildungslehre des Genies entscheidendes Feld. Am Beispiel des Mathematikers Gauß zeigt Florian Roder, wie sich diesem nach jahrelangem Ringen um die Lösung eines mathematischen Problems, durch einen plötzlichen Einfall alle Fragen lösen. Für den weiteren Fortgang der Betrachtung sind hier besonders zwei Eigenschaften dieses Erlebnisses bedeutend. Einmal jene des unmittelbaren Evidenzerlebens, von welchem der Einfall begleitet wird – „Ein Einfall ist ein synthetischer Gedanke“- , und dann, dass die Lösung nicht als eine lineare Fortsetzung der vorausgegangenen inhaltlichen und formalen Bemühungen erscheint, sondern dass diese in einer völlig unerwarteten und neuen Gestalt auftritt. Hier klingt ein im Folgenden noch herauszuhebender entscheidender Gesichtspunkt der „Konstruktionslehre des schaffenden Geistes“ an, der das Verhältnis beleuchtet, in welchem das eigene Bemühen zum sich offenbarenden Geiste steht.

Im Einfall sind anschaulicher und begrifflicher Anteil nicht geschieden, daher rührt die innere Evidenz mit der er auftritt. Nun wird auf allen Stufen seiner Bewusstseins-entwicklung der Mensch mehr oder weniger von Einfällen beschenkt. Nur geht er für gewöhnlich wie ein Kind mit ihnen um, das eine „gute Idee“ hat und diese sofort und unreflektiert „ins Spiel“ bringt. Er ist zunächst wenig geneigt, dem Einfall als solchem eine über seine Anwendungsmöglichkeiten hinausgehende Beachtung zu schenken.

Hier nun ist die alles entscheidende Wende zu vollziehen, die in den Lebensbereich des wahren Genies führt. Im Einfall wirkt Genie – wir sprechen von „genialen Einfüllen“. Der Mensch muss nun lernen sich von den zweifelsohne wertvollen Produkten, oder der Form, in welcher der Einfall auftritt, zu lösen und seine Aufmerksamkeit der im Einfall selbst wirkenden Kraft und Wesenheit zuzuwenden. Es geht nun darum, den Formations- und Lebensprozess unserer Vorstellungen zu belauschen, vom Was zum Wie zu finden. Novalis sagt: „Was zugleich Gedanke und Beobachtung ist – ist ein kritischer – im engeren Sinne genialischer Keim“. „Kritik“ trägt bei Novalis immer die von echtem Interesse getragene Bedeutungsnuance des „Gewusst wie“ und des erkenntnisgetragenen Erfassens eines geistigen Gesetzmässigkeiten folgenden organischen Wachstums. In jedem Einfall schlummern somit unbegrenzte Entfaltungsmöglichkeiten, die jedoch nicht wild wuchern, sondern das in die unterschiedlichsten Welterscheinungen Auseinandergefallene zu einem alle Aspekte umfassendnen und beinhaltenden „Ideenparadies“ ordnen sollen.

Auf der ersten Stufe der genialen Triade wird nun das sich ergreifende Genie aus der dem Einfall mitgegebenen Kraft der inneren Evidenz heraus als „thetisches, oder behauptendes enie“ zum kompromisslosen Vertreter dieses Geistesblitzes gegenüber allen äußeren Fragestellungen. Novalis formuliert: „‚Wer sucht wird zweifeln. Das Genie sagt aber (…) dreist und sicher, was es in sich vorgehen sieht (…). So ist also das Genie, das Vermögen von eingebildeten Gegenständen wie von wirklichen zu handeln“. Unter Beachtung seines vollmenschlichen Anspruches kann das Genie auf dieser Stufe jedoch nicht stehenbleiben, sondern ist im folgenden bestrebt, dem Inhalt seines geistige Erlebnisses eine auch äusserlich verträgliche Form zu verleihen. Es wird zum „polemischen Genie“. Das was hier „Polemik“ genannt wird, tritt dennoch zunächst als innere, gegen sich selbst gewandte Handlung auf den Plan des Bewusstseins. Ein Schlüsselbegriff ist hier, was Novalis „Selbstfremdmachung“ nennt. – „Für den echten Geiehrten gibt es nichts Eigentümliches und nichts Fremdes. Alles ist ihm fremd und eigentümlich zugleich“. Das bedeutet, dass dasjenige, was auf der antithetischen Stufe der vorangehenden Triade, also derjenigen des Theoretikers und Praktikers, noch von einer existenziellen Identifikation mit einem der voneinander abgesonderten Standpunkte geprägt war, nun auf das Niveau reiner Objektivität gehoben wird. Dasjenige, von dem der Mensch sich vormals noch abhängig glaubte um bestehen zu können – sein persönlicher Standpunkt, wird nun als prinzipiell gleichbedeutend mit allen anderen möglichen Gesichtspunkten betrachtet und versucht in einen harmonischen Zusammenklang zu bringen.

Hier wird eine Grundgeste der Selbstentäusserung, oder wie Novalis sagt, der „Selbsterziehung des Ich durch Selbstbeurteilung“ bemerkbar, die er auch als „Verwandlung der Zeit in Ewigkeit durch Absonderung und Erhebung des Geistes“ bezeichnet. – „Wir sprechen vom Ich – als Einem, und es sind doch Zwei, die durchaus verschieden sind – aber absolute Correlata.“ – Es kommt zum Erlebnis einer Art von „innerem Plural“ wie es Novalis nennt, durch welchen sich, so könnte man sagen, niederes und höheres Selbst in Beziehung setzen.

Es klang schon an, dass das Idealschema im Prinzip eine schwingende Mitte mit zwei offenen „Enden“ darstellt. Das Genie ist berufen diese zur Welt und zum Geist sich immer offen haltende Mitte einzunehmen. „Der höchste gebildete Mensch“, oder das „Synthetische Genie“ ist nicht ein in unendlicher und einseitiger Ferne liegender absoluter Idealzustand, sondern das sich in ständiger Bemühung um schöpferische Selbsthervorbringung haltende Ich. Es ist das in der Seele auflebende eigentliche Menschenwesen, – „Der Mensch als Aufgabe der Aufgaben, als Ziel der Ziele“. Wahre „Bildung“ bedeutet für Novalis diese zugleich weltverwandelnde Selbsthervorbringung, „Synthese“, die schöpferische Wirkkraft aus einer den persönlichen Widersprüchlichkeiten übergeordneten Perspektive heraus.

Von hier aus kann sich nun auch noch der ersten Triade zugewendet werden. Als Grundlage des Aufstiegs bildet sie sozusagen die natürliche Blaupause des triadischen Entwicklungsweges, die sich jeder leicht in Hinblick auf seine frühe biographische Entwicklung erklären kann. Sie spielt uns jenen, den gegebenen „Naturmenschen“ hervorbringenden Schwung in die Hände, an welchen dann mit erwachender Besonnenheit in der zweiten Triade bewusst angeknüpft werden kann. Dass Novalis, indem er spricht, „Der gebildete Mensch durchläuft alle diese Klassen – und ist der höchste synthetische Grad des Kindes.“, die höchste Stufe des Schemas als eine bewusste Steigerung der Ersten betrachtet, will ich als erneuten Hinweis auf die innere Geschlossenheit seiner Denkbewegung noch erwähnen.

Abschliessend sei wie angekündigt, noch einmal auf die Frage der persönlichen Willkür zurückgekommen. Es steht ausser Frage, dass der sich der Quelle seiner Einfälle zuwendende und aus ihr heraus handeln wollende Mensch, nicht egoistischen Neigungen folgen kann, so er die Verbindung des Empfangenen mit seinem Ursprung wahren möchte. Die Steigerung der Offenbarungsfähigkeit und somit auch die Heranbildung des Genies, kann also seinem Wesen nach nicht auf dem Boden niederer Vollkommenheitsansprüche gedeihen. Hier kann nur greifen, was Novalis „indirekte Konstruktion“, oder auch „krumme Regel“ nennt. Beides besagt, dass der Mensch sozusagen ein „Novalis“, ein „Neuland bereitender“ werden müsse. Einer, dem es zukommt, den Boden zuzubereiten für die vom Geiste her ausgebrachte Ideensaat. – „Ich kann nichts tun, außer tun, dass Es sich tun kam“ – so in etwa fasst Novalis dieses allem geistigen Schöpfertum zugrundeliegende Prinzip zusammen. Und „So kommt das Höchste von selbst, wenn alle Bedingungen seiner Erscheinung vorhanden sind“.

Obwohl es ein Thema für sich ist, muss noch hervorgehoben werden, dass Novalis diese den Grund für das Erscheinen des Geistes zubereitende individuelle Tätigkeit, als in innigstem Zusammenhang mit demjenigen stehend erlebte, was von den Repräsentanten der idealistischen Philosophie seiner Zeit „intellectuale Anschauung“ genannt wurde. In schöner, aber auch ernster Weise, tritt dasjenige worauf hier im wesentlichen ankommt, in den folgenden Worten Fichtes zutage, mit welchen ich an dieser Stelle enden möchte:

„Uns allen nämlich wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser Innerstes, von allem, was von aussen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen. Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben.“

Johann Gottlieb Fichte: Anweisungen zum seeligen Leben; 1. Vorlesung 1806

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