Perspektiven der Hochschularbeit

Rezension von „Perspektiven freier Hochschularbeit“1


Diese Rezension habe ich für „Anthroposophie Weltweit“ im Frühjahr 2019 geschrieben, dort sollte sie zusammen mit einer Stellungnahme der Allg. Sektion veröffentlicht werden. (Diese Stellungnahme ist bis heute nicht erfolgt und die Veröffentlichung entsprechend auch nicht.) Des­halb sei meine Rezension hier im Gedenken an Elisabeth Wutte† und als Dank an sie und Günther Röschert platziert .

Rezension

20 Beiträge alphabetisch nach Anfangsbuchstaben der Autoren geordnet? Zunächst denke ich noch: Da haben die Herausgeber ja Glück gehabt, dass mit David Auerbach ein Überblick über die verschiedensten gängigen Hochschularbeiten an den Anfang gerät. Aber wenn sich auch der eine oder andere Beitrag systematisch anders anordnen liesse: Gegen Schluss stehen Beiträge, die sich nicht in Klagen, eher grundsätzlichen Überlegungen oder Nacherzählungen der Mantreninhalte befassen, sondern bescheiden von weiterführenden Ansätzen erzählen, die noch vor wenig Jahren als anmassend oder naiv abgewertet worden wären.

Klagen

Die schweren Klagen kommen nicht als anklagende Texte. Sie schildern vielmehr biographische Momente, etwa von Valentin Tomberg oder Heinrich Leiste, die an der Immunreaktion der Anthroposophischen Gesellschaft zerschellen bzw. sich totlaufen. War es Erkenntnisohnmacht, die die Auseinandersetzung fürchtete und deshalb diese Menschen ausgrenzte bzw. ignorierte? Sind wir heute besser? Ich wage die These: Solange die Anthroposophische Gesellschaft keine Hochschule (sondern allenfalls eine Volkshochschule2) trägt, wird sie solchen eigentlich fruchtbaren Auseinandersetzungen (wie beispielsweise mit Judith von Halle) nicht gewachsen sein. Das kommt in den Beiträgen auch deutlich zum Ausdruck.

Da über Jahrzehnte (immer wieder) «Lektoren» so gewählt wurden, dass sie nicht in Konflikte verwickelt waren, ist es nicht wirklich überraschend, dass sie sich überfordert fühlten, als aus den «Lektoren» «Vermittler» werden sollten, die selbstständig ihre Hochschularbeit verantworten. Sie fanden besonders formale Fragen wichtig: «Nie ohne blaue Karte» und: «die Klassentexte gehören trotz Veröffentlichung nicht in die Hände von einfachen Hochschulmitgliedern.» Beides lässt sich begründen. Wenn aber damit Entwicklungen ausgebremst werden, fehlt es an Leitung.

Erlebnisse

Immer wieder kreisen Schilderungen des Buches um den Hüter der Schwelle. Besonders beeindruckend fand ich das «das gelöbnis» [sic!] von Herbert Heinz Friedrich, der mit eigener Spruchform diese Gestalt in ihrer Unumgänglichkeit fühlbar werden lässt, indem er von seinem Gelöbnis3 «vor» dem Hüter erzählt. Und doch bleibt dieser Hüter (jedenfalls in seinem Text) als unmittelbare Geisterfahrung vage. Mich berührt dieser Text, weil er auf jede Extrapolation (wie der Hüter denn wohl eigentlich wäre, wenn ich ihn konkret erlebte) verzichtet und nur den Umgang mit der eigenen Erfahrung schildert.

Eher ermüdend las ich dagegen die Nacherzählungen der Mantren in verschiedenen Beiträgen, um daran die eigene Arbeitsweise zu demonstrieren, anregend dagegen Schilderungen, wie einzelne sich der Geisterfahrung aussetzen und was sie dabei erfahren.

Arbeitsweisen

Eine Stärke dieser «Perspektiven» liegt in den z.T. anschaulichen Schilderungen sehr verschiedener
Arbeitsweisen. Sie reichen von einer Textarbeit an den Klassentexten (Methode Lindenau), über die
künstlerische Umsetzung der Inhalte und Mantren in eine Art Mysteriendrama zu Anleitungen für konkrete Geisterfahrungen im Umgang mit diesen Mantren. Grosser Wert wird auf Verbindlichkeit und gemeinsame Verantwortung in der Gruppenarbeit gelegt. Zu den bisher eingeführten Formen (Vorlesen der Klassentexte, selbstverantwortete Schilderung des eigenen Umgangs mit den Mantren) werden hier gemeinschaftliche Formen als fruchtbar hinzugestellt, in der die Gemeinschaft die Inspirationsfläche für das aktuelle Zusammenwirken mit den eingeladenen, geistigen Wesen bildet.

Kultische Formen

Nachdem Rudolf Steiner die kultische Arbeit mit Beginn des ersten Weltkrieges eingestellt hatte, auf der Weihnachtstagung aber darauf hinwies, dass die Hochschule für Geisteswissenschaft die Fortsetzung dieser Arbeit in anderer Form sei und aus drei Klassen bestehen solle, ist die verbreitete Vermutung, dass diese kultische Form erst in den nicht mehr eingerichteten Formen der 2. und 3. Klasse verwirklicht worden wäre. Nun weisen Christiane Gerges und Rolf Speckner darauf hin, dass das Einweihungsritual des Misraim-Michael-Dienstes, es dauert über einige Stunden, auffällige Ähnlichkeiten mit dem Gang durch die ersten Klassenstunden aufweist. Sie formulieren als Forschungsfrage, was gewonnen werde, wenn zu der Arbeit an den Mantren solche kultischen Handlungen hinzugefügt werden. (siehe auch Hochschule für Geisteswissenschaft und Mysterienkunst als Michael-Dienst)

Andere Wege beschreiten Peter Schamberger und Dorian Schmid, die für ihre Bildekräfte-Forschung eine eigene Schule begründet haben und dort für die Stärkung dieser Forschung ebenfalls Hochschulzusammenkünfte durchführen, die sie – ihrer spirituellen Empirie folgend – mit sich verfeinernden Formen gestalten, etwa indem sie beobachten, wie sich die Atmosphäre des Raumes verändert, wenn Mantren an die Tafel geschrieben – und später ausgewischt werden.

Und nun?

Die Anthroposophische Gesellschaft steht in einer Zerreissprobe: Seit dem Jahrtausendwechsel zeigt sich eine Polarisierung: Manche haben sich still zurückgezogen, sind teilweise aus der Gesellschaft ausgetreten und lassen wohl ab und zu – wie Noah – eine Taube fliegen, um zu sehen, ob sie vielleicht mit einem grünen Zweig zurückkäme. Andere fordern eine Besinnung auf die ursprünglichen Werte und haben zunehmend den Eindruck, sie werden nicht mehr gehört. Für manche von diesen, wie auch für manche «Lektoren» dürften die hier besprochenen Texte eher wie Alarmzeichen eines «Everything goes» wirken.

Wird es der jetzt (geschrieben 2019) einzurichtenden Leitung der Allgemeinen Anthroposophischen Sektion gelingen, die «Vermittler» zu entlasten, indem sie deutlich macht, dass Forschung nicht Aufgabe der «Vermittler» sei, und den vor Naivität Warnenden versichern können, dass es zur Forschung gehöre, durch Verpuppungsstadien zu gehen, die noch wahrlich nicht nach Schmetterling aussehen? – Ein schmerzender Spagat, der hoffentlich nach Jahrzehnten der Verschleppung noch erträglich bleibt!

Andreas Heertsch


  1. Elisabeth Wutte†/Günter Röschert (Hrg): Perspektiven freier Hochschularbeit. Novalis-Verlag, D-24972 Steinkirche-Neukirchen ISBN 978-3-941664-65-4 ↩︎
  2. Diese Bemerkung geht vermutlich auf Karl Kempter zurück. Dabei habe ich hier nicht die Fachsektionen, sondern die Allgemeine Sektion im Auge. ↩︎
  3. Dies Gelöbnis geht auf einen Hinweis Rudolf Steiners aus den Klassentexten zurück.
    Offenbar gab es eine Weiterarbeit von der Jules Sauerwein berichtet. (A.a.O. S. 318)
    Die Autoren schildern weitere Formen, die aber besser im Original nachgelesen werden. ↩︎

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