Christus, der Sohn Gottes

Eine Antwort an Klaus J. Bracker und für die Leser

Die Frage nach der Menschwerdung Gottes in Jesus ist wohl die größte, erhabenste und zugleich geheimnisvollste, wie jene nach dem Menschen selbst. Jede Bemühung, sich diesem Mysterium zu nähern ist ein Gewinn für die Erkenntnissuche nach dem wahren Sinn des Lebens schlechthin. Mit seinen Beiträgen im Korrespondenzblatt, „Die christliche Tradition in vollem Sinne ernst nehmen“, möchte Klaus J. Bracker eine Forschungsfrage vorlegen, um die Geburt in Bethlehem „neu“ zu bewerten, zugleich jene nach der „Jungfrauengeburt“ sowie „die Stellung der anthroposophischen Geisteswissenschaft zu den Zeugnissen der christlichen Tradition überhaupt“ (KB 4,18).[1] Er möchte die These begründen, dass der Sohn Gottes, die zweite Hypostase der Trinität, nicht erst mit der Johannestaufe im Jordan in den Menschen Jesus von Nazareth eingetreten sei, sondern schon bei der Geburt des Jesus in Bethlehems Stall. Demgegenüber geschah es bei der Jordantaufe, „dass der kosmische Christus sich mit Jesus von Nazareth verband, während der Sohn ihm bereits innewohnend“ sei. (Teil 1, S. 18) Christus wird dabei als ein hierarchisches Wesen verstanden, dem „Höchsten der Sonnen-Hierarchie“ (Teil 2, S. 4, FN 2), das von dem Sohn, dem Logos, zu unterscheiden sei.[2]

In einer Arbeit, die als Beitrag zur anthroposophischen Forschung gemeint ist, kommt es aber nicht allein auf die inhaltlichen Aussagen an, sondern auch auf die Methode, durch die sie gewonnen werden. Und hier zeigen sich von Anfang an Schwächen, die zu irreführenden Vorstellungen führen. Eine gründliche Prüfung der Kernaussagen wird ergeben, dass diese nicht nur methodisch nicht haltbar sind, sondern auch im Gegensatz zu geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnissen Rudolf Steiners stehen. Um dies begründend darzustellen, wird es nötig sein, die von Bracker viel zu verkürzt zitierten Aussagen Steiners in ihrem ursprünglichen Kontext zu betrachten. Der Leser wird um Verständnis gebeten, dass dies nicht mit wenigen Zeilen zu machen ist. Die kritische Betrachtung wird um wesentliche Gesichtspunkte aus der Geistesforschung Steiners ergänzt, die das Bild von der Geburt des nathanischen Jesus differenzierter beleuchten sowie um einige Quelletexte, besonders aus den letzten Lebensjahren Steiners, zu der Frage vom Wesen des Christus als dem Logos, dem Sohn Gottes.

„Die christliche Tradition in vollem Sinne ernst nehmen“?

Beginnen wir mit dem Titel der Beiträge. Bracker wählt als Überschrift ein Zitat Rudolf Steiners, das er in Teil 1 in Anführungsstrichen setzt, in Teil 2 nicht, und jeweils in den Texten noch einmal zitiert, insgesamt also viermal. Der Satz lautet: „Die christliche Tradition in vollem Sinne ernst nehmen“. Gleich anschließend macht Bracker deutlich, was er unter „christliche Tradition“ versteht. Er nennt das Konzil von Ephesus (431), die Aussage: „Maria habe nicht nur den Menschen Jesus geboren, sondern zugleich auch den Gottessohn Christus“ (KB 4, S. 16), spricht von Konzilsbeschlüssen, von Paulus‘ Brief an die Galater und geht im 2. Teil ausführlich auf die christliche Tradition des Thomismus ein, meint also die überlieferte Tradition des Kirchenchristentums. Was aber meinte Steiner an zitierter Stelle mit „christliche Tradition?

Das Zitat ist dem Vortrag vom 20. Mai 1923 in Kristiania entnommen, in GA 226: Menschenwesen, Menschenschicksal und Weltentwickelung. Es geht darin keineswegs um die christliche Tradition im Sinne Brackers, sondern explizit um ein Ernstnehmen zweier Christus-Worte aus den Evangelien. Und es geht um das Ernstnehmen der Evangelien durch die anthroposophische Geistesforschung, die von dem lebendigen Christus spricht, um die Erkenntnisse der Anthroposophie, die wir als das „Wort Christi“ ansehen könnten. Ohne diesen Kontext wird das Steiner-Zitat in eine Richtung umgedeutet, die Steiner selbst nicht intendierte. Im Vortrag vom 20. Mai 1923 heißt es:

„Aber Anthroposophie wird sich immer weiter und weiter entwickeln, und ein Teil ihrer Entwickelung wird darinnen bestehen, dass sie Worte über die Darstellung des Mysteriums von Golgatha finden wird, mit denen sie zu den Hindus, zu den Chinesen, in alle Gebiete der Erde gehen kann … Dazu ist aber allerdings notwendig, dass dasjenige, was christliche Tradition ist, in vollem Sinne ernst genommen werde. … Warum wird denn gewöhnlich das Wort am Ende des einen Evangeliums so wenig ernst genommen, das da heißt: «Ich hätte euch noch viel zu sagen, allein ihr könnet es jetzt noch nicht verstehen»? Und warum wird denn das andere Wort des Evangeliums so wenig ernst genommen: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenzeiten»? Denn der Christus hat wahr gesprochen. Er hatte den Menschen nicht nur dasjenige zu sagen, was in den Evangelien aufgezeichnet ist. … Der Christus blieb vom Mysterium von Golgatha an als der lebendige Christus, nicht als der tote Christus unter den Menschen. Und er ist da. Lernen wir seine Sprache kennen, dann werden wir auch wissen können, dass er da ist, dass sein Wort wahr ist: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenzeiten.» Und seine Sprache, seine Geistsprache möchte sprechen gerade anthroposophische Weltanschauung. … Wir dürfen auch dasjenige, was wir aus der geistigen Welt mit Hilfe derjenigen Macht, die durch das Mysterium von Golgatha vom Himmel auf die Erde herabgestiegen ist, gewinnen, nach dem Mysterium von Golgatha als das Wort Christi ansehen.“

(226, 92 f.)[3]

Das „Ernstnehmen der christlichen Tradition“ bezieht sich also nicht auf die Entwicklung der Theologie seit dem 3. Jahrhundert, sondern auf Evangelienworte!

Schon mit dem Titel seines zweiteiligen Beitrags vollzieht Klaus Bracker eine vollständige Umdeutung des zitierten Steiner-Wortes, indem er den darauf folgenden Inhalt, auf den es hauptsächlich ankommt, weglässt, und führt den Leser damit von Anfang an auf eine falsche Fährte.

„Die Dogmen sind schon wahr …“

                Das gleiche Problem zeigt sich in der Überschrift zu seiner Replik als Antwort an Wolfgang Gädeke, für die erneut Steiner zitiert wird: „Die Dogmen sind schon wahr …“.

Bracker zitiert den Satz zweimal, am Anfang und am Ende des Beitrags. So will er den Eindruck erwecken, als bestätige Steiner die Wahrheit der Dogmen in der Form, wie die Kirchen sie überliefert haben. Dem ist aber nicht so!

In dem Vortrag vom 3. Juni 1923, GA 204, Perspektiven der Menschheitsentwickelung, dem die zitierten Worte entnommen sind, geht es um die Anschauungen alter Zeiten der Heidenzeit, wie sie auch noch bei den Kirchenvätern der ersten christlichen Jahrhunderte lebten. Es geht um die Auffassung, dass in der Natur und im Werden der Menschheit das „Walten des Vatergottes“ gesehen wurde. Ausführlich spricht Steiner über die Weltschöpfung aus dem Logos und stellt dar, dass die gewordenen irdischen Dinge nicht vom Vatergotte herrühren, sondern

„das rührt von dem Sohne, von dem Logos her, den der Vatergott hat aus sich hervorgehen lassen, damit der Logos die Erde schaffe; und das Johannes-Evangelium ist aufgerichtet, ein großes, bedeutsames Monument, um anzudeuten: Nein, es ist nicht so, wie die Alten geglaubt haben, dass die Erde vom Vatergott geschaffen sei; der Vatergott hat den Sohn aus sich hervorgehen lassen, und der Sohn ist der Schöpfer der Erde.“

(204, 284 f.)

Steiner geht auf Johannes Scotus Erigena ein, es geht um den Weltuntergang, das „neue Jerusalem“, dass wir heute schon in der „ruhenden Gottheit“ lebten, und in diesem Zusammenhang fällt das Wort von den alten Dogmen, das man nicht so verkürzt wiedergeben sollte, will man Steiner, den man zitiert, gerecht werden.

„Solche Lehren, wie sie in den ersten christlichen Jahrhunderten vorhanden waren, solche Lehren bewunderten die Weistümer des Heidentums, und die christlichen Kirchenväter versuchten diese zu verbinden mit dem Geheimnis von Golgatha. Man sah tatsächlich die Dinge so an, wie ich sie heute geschildert habe. Aber man glaubte nicht daran, dass die Menschen sie zunächst verstehen können. Daher konservierte man in Dogmen, die nur geglaubt werden sollen, die nicht verstanden werden sollen, die Geheimnisse der alten Zeit. Die Dogmen sind nicht etwa Aberglaube oder Unwahrheit. Die Dogmen sind schon wahr, nur dass sie in der richtigen Weise verstanden werden müssen. Verstanden können sie aber nur werden, wenn durch dasjenige, was nun heraufgekommen ist mit dem Beginne des 15. Jahrhunderts, dieses Verständnis gesucht wird.“

Es müssten die Wege aus geisteswissenschaftlichem Verständnis erst gesucht werden, um dasjenige, „was verschüttet ist von der Urweisheit, in der richtigen Weise fassen zu können. Solche Tatsachen beachten ja die Menschen heute nicht, dass im Johannes-Evangelium klar ausgesprochen ist: Der Logos ist das Schöpferische, nicht der Vatergott.“

      (204,294)

          

In einer Darstellung über das Dogma der Trinität führt Steiner aus, dass es kein willkürlich aufgestelltes Dogma sei, sondern „Initiationsweisheit der ersten christlichen Jahrhunderte“ (214,71), die aber verschüttet worden sei. Die alten Lehrsätze seien „Ergebnisse von Erfahrungen, von Erlebnissen einstiger Eingeweihte“ und ursprünglich auf dem Wege der Einweihung gefunden worden.

„Man gab später nur nicht mehr zu, dass man eine solche Einweihung durchmachen kann und selber zum Beispiel zu der Anschauung der Trinität kommen könnte.

Dogma wird ja etwas erst dadurch, dass man seinen Erkenntnisursprung nicht mehr hat. Wenn jemand ein Eingeweihter ist und die Trinität schaut, so ist sie für ihn kein Dogma, sondern eine Erfahrung. Wenn irgendwo behauptet wird, man könne so etwas nicht schauen, sondern es werde geoffenbart und müsse dann geglaubt werden, dann ist es ein Dogma. … Wenn man die Dogmen, die einen tiefen geistigen Gehalt haben, zurückverfolgen kann bis zu derjenigen Form, in der sie einmal ein Initiierter ausgesprochen hat, dann hören sie auf, Dogmen zu sein.“

(213, 178 f.)

Es geht Steiner also gerade nicht darum, die Dogmen so zu nehmen, wie sie überliefert sind, sondern um ein Aufsuchen der zugrundeliegenden Wahrheiten durch die Erkenntnismöglichkeiten der modernen Geistesforschung der Anthroposophie.

„Das Falsche in der Kirche besteht nicht darin, dass sie die Dogmen fortgepflanzt hat, sondern es besteht darin, dass sie die Dogmen vereist, kristallisiert hat, dass sie sie hinweggenommen hat von der menschlichen Erkenntnis. Indem man die menschliche Erkenntnis beschränkte auf das, was nur die Sinneswelt ist, mussten die Dogmen kristallisiert, mussten die Dogmen verhärtet, mussten die Dogmen unverständlich werden. Denn dass der Glaube jemals wirklich ein Verständnis bringen könne, das ist eine Unmöglichkeit. Was erlöst werden muss innerhalb der Menschheit, das ist die Erkenntnis selber, das ist die Zurückführung der Erkenntnis zum Übersinnlichen.“

(214, 71 f.)

Weitere Beispiele ließen sich anfügen (345,57 f.; 214, 71 f. u.a.) Wie sieht es nun mit den inhaltlichen Aussagen aus?

„… den Sohn der Erde sendet“

Bracker stützt sich im Wesentlichen auf drei Quellen aus dem Werk Steiners, die zugleich die Auffassung des Konzils von Ephesus (431) bestätigen sollen, dass Maria nicht nur den Menschen Jesus geboren habe, sondern mit ihm den Sohn Gottes, sowie Paulus im Brief an die Galater, Gal 4,4: „Als aber die Fülle der Zeit kam, entsandte Gott seinen Sohn, geboren aus einer Frau, dem Gesetz unterstellt.“ (KB 4,S. 16).

Zweimal wird der Spruch von Steiner im Weihnachtsvortrag in Dornach vom 26. Dezember 1914 zitiert, in dem es heißt: „Des Vaters ew’ge Liebe / Den Sohn der Erde sendet“ und dann der Schluss gezogen: „Das Datum, der 26. Dezember, die ‚göttliche Offenbarung‘ vor den Hirten auf dem Felde und das ‚Weihnachtskind‘“, von denen in dem Vortrag Steiners die Rede sei: Dies alles spreche dafür,  dass sich die „Sendung des Sohnes, wirklich auf die Geburt in Bethlehem“ beziehe. Diese Schlussfolgerung wird aber nicht weiter belegt. Mit der gleichen Logik könnte man schließen: „September, Herbst, Apfelbaum, ein Apfel auf der Erde –, folglich hat der Wind den Apfel vom Baum geweht“, während in Wirklichkeit ein Kind den Baum erklettert und den Apfel zur Erde geworfen hat. Schließen ist keine geeignete Methode zur Erkenntnis der Wirklichkeit.[4]

In diesem Vortrag Steiners geht es ausnahmslos um „Christus als kosmisches Wesen“. Es sind große Perspektiven des Menschheitswerdens dargestellt, es solle keine „Weihnachtsbetrachtung wie in andern Jahren sein. Über weite Strecken geht es um den Mithrasdienst, das Herabsteigen des Mithras von Äon zu Äon, von der geistigen Welt zur Erde; um das Mysterium von Golgatha, das der ganzen Erdenentwicklung ihren Sinn gegeben habe, dass sich das hellseherische Erkennen früherer Zeiten verlieren musste, dass die Menschen in ferner Zukunft den Christus wieder schauen werden. Steiner spricht davon, die Menschen sollten empfinden, dass sie das „große Geschenk der kosmischen Liebe, den Christus, von dem Gotte, den man den Vatergott nennt, empfangen“ haben (156,153). Dazu sei Christus aus weiten geistigen Reichen in das enge Erdental gezogen. Weiter geht es um den Manichäismus, die Gnosis, den Weg vom „Himmels-Christus“ zum „irdischen Christus“. Und so sei versucht worden „die ganze anthroposophische Weisheit von dem Christus-Ereignis, namentlich von der Weihenacht und ihrer Verbindung mit dem menschlichen Gemüt, in einfache Worte zu fassen“, und dann spricht Steiner – in einfachen Worten – diesen Spruch:

„Im Seelenaug‘ sich spiegelt
Der Welten Hoffnungslicht
… Des Vaters ew’ge Liebe
Den Sohn der Erde sendet …“

(156, 158 f.)

Lässt man den Vortrag in seinen weiten Bezügen auf sich wirken, erscheint das große Bild der Evolution der Erde, die nicht hätte fortgesetzt werden können, wenn nicht der Christus aus kosmischen Höhen zur Erde gekommen wäre. Wenn es heißt, dass des Vaters ew’ge Liebe „den Sohn zur Erde sendet“, so sind damit große Perspektiven angesprochen, die den ganzen Prozess des Niederstiegs des Christus aus göttlichen Welten jenseits von Raum und Zeit in den Kosmos, durch die Sternenwelt, durch die Sonne zur Erde umfassen. Es entsteht das Bild eines gewaltigen prozessualen Geschehens, das in „einfache Worte gefasst“ ein kosmisch-irdisches Ereignis zusammenfasst, das sich im Christus-Mysterium entfaltet.

Bracker bezieht die „Sendung des Sohnes“ auf die „Geburt in Bethlehem“. Im Vortrag Steiners ist davon nicht die Rede.

Von Geburt an verbunden

Es folgt ein zweites kurzes Zitat Steiners, aus GA 155, S. 236, aus dem öffentlichem Vortrag „Anthroposophie und Christentum“ vom 13. Juli 1914 in Norrköping. Darin spricht Steiner in Abwehr gegnerischer Einwände aus, dass der Christus mit dem Jesus „von der Geburt an verbunden“ sei, und vergleicht es mit dem Menschen, der sich erst im dritten Lebensjahr zu erinnern beginne, obwohl er schon vorher mit seinem Leib verbunden war.

Bracker stellt zwar fest, dass es kompliziert sei, weil hier nicht vom Sohn, sondern von Christus die Rede ist, rechnet es aber Steiners angeblicher Ungenauigkeit zu: „Die Unterscheidung des Sohnes, als der zweiten Person des dreieinigen Gottes, von dem Christus scheint im Werk Rudolf Steiners nicht überall in derselben Klarheit getroffen zu sein.“ (KB 4, S. 16) Er unterstreicht dies dadurch, dass er aus einem Zwiegespräch Rittelmeyers mit Steiner zitiert: Dr. Steiner bestätigte ganz deutlich, „dass Christus der Höchste der Sonnenhierarchie“ sei, und von diesem zu unterscheiden „die zweite Person der Gottheit, der Logos“ (KB 2, S. 17).

Mit Blick auf den Vergleich mit dem dreijährigen Kind wird nun vermutet, das dort, wo Steiner über Christus spreche, „eigentlich der Sohn – oder: der Logos – gemeint“ sei. Anders bei der Jordantaufe: „Bei dem Sich-Verbinden des Christus mit Jesus von Nazareth durch die Jordantaufe“ gehe es hingegen „um das Sich-Verbinden, um die beginnende Inkarnation einer hohen kosmischen Wesenheit.“ (KB, S. 17)

Man muss sich schon die Mühe machen, den zitierten Vortrag aufmerksam zu lesen, um zu erkennen, dass es sich um eine zusammenhängende Darstellung über Christus handelt, die Steiner wie in einem Atemzug vor seinen Zuhörern in Norrköping entfaltet. Man kann sie nicht in zwei Teile teilen und den ersten Teil auf Christus beziehen, den zweiten auf den Sohn und dann behaupten, Steiner spricht von zwei verschiedenen Wesen.

Zuerst geht es um die Johannestaufe im Jordan:

„Durch dasjenige, was auf Golgatha geschieht, verbindet sich etwas, das vorher nur in den geistigen Höhen zu erreichen war, mit der Erdenmenschheit selbst. Es lebt seit der Zeit, da der Christus durch den Tod gegangen ist auf Golgatha, in allen menschlichen Seelen drinnen. Es ist die Kraft, durch welche jede Seele den Weg in die geistige Welt hinein finden kann.“

(155,235)

Und gleich im Anschluss heißt es:

„Man wirft der Geisteswissenschaft vor, dass sie sagt, der Jesus sei nicht immer der Christus gewesen, sondern erst im dreißigsten Jahre des Jesus hätte das Christus-Leben auf Erden begonnen. Oberflächlichkeit über Oberflächlichkeit, … Müssen wir nicht sagen: Erst im dritten Lebensjahr ungefähr kann der Mensch beginnen, sich zu erinnern. Sagt man aber deshalb, dass dasjenige, was später im Menschen lebt, nicht früher schon in ihm war? Wenn man spricht von dem Einzuge des Christus in den Jesus, leugnet man deshalb, dass der Christus mit dem Jesus von der Geburt an verbunden war? Ebenso wenig leugnet man dieses, wie man leugnet, dass die Seele im Kinde ist, bevor die Seele sozusagen aufersteht in diesem Kinde im Laufe des dritten Jahres. Man muss nur verstehen, was die Geisteswissenschaft sagt, dann wird man nicht mehr ihr Gegner sein.“

(155, 235 f.)

Ich sehe keinen Anlass, den Gedankenzusammenhang, den Steiner seinen Zuhörern in Norrköping so klar darstellte, so umzudeuten: das Taufgeschehen beziehe sich auf das hierarchische Sonnenwesen Christus und was sich mit dem Jesus-Kind verbunden hat auf den göttlichen Sohn (KB Teil 1, S. 17, KB Teil 2, Fußnote 2). Aus dem Vortrag selbst ist das nicht begründet. Steiner macht diese Unterscheidung nicht, im Gegenteil, nach seiner Darstellung handelt es sich bei Christus um den Logos, der bei der Johannestaufe in den Menschen Jesus einzog. So heißt es drei Tage zuvor, am 16. Juli 1914 am selben Ort Norrköping im letzten Vortrag der Reihe „Christus und die menschliche Seele“ für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft mit Bezug auf den Prolog des Johannes-Evangeliums:

„Der Christus aber zog bei der Johannestaufe im Jordan in einen Menschenleib ein … Deshalb berühren uns auch vom Standpunkt der Geisteswissenschaft so tief die Worte des Johannes-Evangeliums: Im Urbeginne, als der Mensch der Versuchung noch nicht unterlegen war, da war der Logos. Der Mensch gehörte dem Logos an. Der Logos war bei Gott, und der Mensch war mit dem Logos bei Gott. Und durch die Johannestaufe im Jordan trat der Logos in die menschliche Entwickelung ein, er wurde Mensch.“

(155,198 f.)

Drei Seiten später heißt es noch deutlicher: der „lebendige Logos, der Christus“ (155, 202), zu dem der Mensch heute eine Beziehung aufnehmen kann. Allein diese Vortragsstellen, von denen es mehr gibt, widerlegen die Auffassung, Christus sei „nur“ ein hierarchisches Sonnenwesen, von dem der Logos, der Sohn, zu unterscheiden sei. Es gibt keinen Anlass zu meinen, dass Steiner nicht das ausspricht, was er sagen will. Dass er angeblich bestimmte Unterscheidungen nicht immer mit „derselben Klarheit“ ausgesprochen hat, ist keine Unachtsamkeit, sondern vielfach bewusste Methode, gerade nicht eineindeutig festzulegen, sondern von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu charakterisieren statt zu definieren. Dies mache er „absichtlich“ so, wie er einmal sagte,

„… damit die Anthroposophen sich daran gewöhnen, sich nicht an Worte zu halten, sondern an die Sache heranzutreten. Wenn wir sehen werden, dass die Dinge von den verschiedensten Seiten charakterisiert werden können, dann wird man auch nicht mehr auf die Worte schwören, sondern das Bestreben haben, an die Sache heranzutreten und sie so zu nehmen, dass man weiß, dass die Worte, die von den verschiedensten Seiten die Dinge charakterisieren, nichts anderes bedeuten sollen als eben Annäherungen an die Sache selber. Durch nichts weniger als durch Schwören auf die einmal gesprochenen Worte kommen wir der Sache näher, sondern nur, indem wir das, was in den aufeinanderfolgenden Zeiten gesagt wird, in eine Harmonie bringen, wie wir einen Baum nur dadurch kennen lernen, wenn wir ihn nicht von einer Seite nur, sondern von den verschiedensten Seiten aufnehmen.“

(130,194 f.)

Erdengeburt

Die strenge Unterscheidung, Rittelmeyer folgend, der zweimal zitiert wird, zwischen Christus als dem Höchsten der Sonnenhierarchie einerseits und dem göttlichen Sohn als dem Logos andererseits, vermag Bracker nicht durchzuhalten. Denn in seiner dritten Begründung, die sich erneut auf den Sohn beziehen soll, geht es bei Steiner eindeutig um Christus.[5]

Es geht um eine Stelle aus dem Vortrag vom 13. April 1922 in Den Haag, in der es heißt, Christus folgte dem Ratschluss der Götterwelten, um „mit der eigenen göttlichen Seele durch Erdengeburt und Erdentod hindurchzugehen …, um mit den Menschen gleiche Erlebnisse des Irdischen, gleiche Schicksale zu haben.“ (211, 128 f.) Später heißt es „Menschengeburt und Menschentod“.  In seiner Replik an Gädeke ergänzt Bracker, dass mit „Erdengeburt“ und „Menschengeburt“ nicht die Jordantaufe gemeint sein könne, sondern eine Geburt, die „ein konkretes fetales, pränatales Leben zum Abschluss“ bringe und die das „beginnende Leben eines Neugeborenen zur Folge“ habe. (KB 7, S. 4)

Wiederum sei dem Leser empfohlen, den genannten Vortrag im Ganzen zu lesen, um die Größe und Weite der Gesichtspunkte nachzuempfinden, über die alte göttliche Urweisheit, die göttlichen Lehrer der Menschheit, Jahve, die Bodhisattvas, die Bedeutung des Mysteriums von Golgatha. Dann erscheint der Gedanke an ein fetales, pränatales und eines Lebens als Neugeborenes weit abliegend von den geisteswissenschaftlichen Tatsachen, um die es hier geht, die in einem viel größeren Zusammenhang stehen, so dass sich kaum ein Weg zu der punktuellen Menschengeburt als Neugeborenes findet.

Es gibt indes eine Darstellung aus dem Fünften Evangelium Steiners, Aus der Akasha-Forschung, Vortrag Kristiania, 3. Oktober 1913, in der Steiner über Geburt und Tod des Christus in überraschender Weise spricht. Es sei bei Christus ganz anders als beim Menschen: Die Johannestaufe stelle sich dar „wie eine Empfängnis bei einem Erdenmenschen“. Steiner zitiert das Lukas-Evangelium, das von der Empfängnis des Sohnes spricht:

„‘Dieser ist mein viel geliebter Sohn, heute habe ich ihn gezeuget.‘ Das sind die Worte des Lukas-Evangeliums, und das ist auch die richtige Widergabe dessen, was damals geschehen ist: die Zeugung, die Empfängnis des Christus in die Erdenwesenheit. Das vollzog sich am Jordan.“

(148,51)

Das Leben des Christus von der Taufe bis zum Tod auf Golgatha entspreche dem Leben des Menschenkeimes im Leib der Mutter, dies sei „ein Keimesleben der Christuswesenheit“. Den Kreuzestod auf Golgatha müssten wir verstehen als „die irdische Geburt (kursiv FL), also den Tod des Jesus als die irdische Geburt des Christus“, und sein eigentliches Erdenleben müssten wir suchen nach dem Mysterium von Golgatha, in der Christus den Umgang mit den Jüngern hatte, das, was der eigentlichen Geburt der Christus-Wesenheit folgte. Die Himmelfahrt, die Ausgießung des Geistes entspreche dem menschlichen Tod, das Eingehen in die geistige Welt. Und das Weiterleben des Christus in der Erdensphäre seit Himmelfahrt und Pfingsten könne man vergleichen mit dem, was der Mensch im Geistigen des Devachan durchlebt. (148, 41) Es sei aber anders als das Leben im Geisterland beim Menschen. Die Christus-Wesenheit erlebte vom Pfingstereignis an „das Aufgehen in die Erdensphäre.“ (148,42) Der Mensch geht nach dem Tod ein in den „Himmel“, die Christus-Wesenheit verließ den Himmel und brachte das Opfer, „ihren Himmel gleichsam auf der Erde aufzuschlagen“, um mit der Erde und mit den Menschen auf der Erde zu leben. Die Zeit zwischen der Johannestaufe und dem Pfingstereignis musste die Christus-Wesenheit erleben, um

„umzuwandeln die himmlische Wesenheit des Christus in die irdische Wesenheit des Christus. … Warum sind also die Ereignisse von Palästina vollzogen worden? Damit die göttlich-geistige Wesenheit des Christus die Gestalt annehmen konnte, die sie brauchte, um mit den menschlichen Seelen auf der Erde Gemeinschaft zu haben.“

(148,43)

Während der Jahre in Palästina machte der Christus ein unendliches Leiden durch, indem er immer mehr Mensch wurde. Und ist es nicht Christus, der göttliche Sohn, der durch Tod und Auferstehung gegangen ist, also seine „irdische Geburt“ in der Menschheit erfahren hat? Darauf aber kommt es gerade an, auf die Geburt des Christus in der Menschheit, für die ganze Menschheit, wofür die Geburt des Jesus von Nazareth und dessen Entwicklung bis zum 30. Lebensjahr – mit allen Vorbereitungen der Wesensglieder durch die zwei Jesusknaben, dem Wirken Zarathustras und Buddhas, der besonderen nathanischen Seele, in dessen Leib er inkarnierte – die Voraussetzung war. Über den Prozess der Umwandlung der „himmlischen Wesenheit des Christus in die irdische Wesenheit des Christus“ spricht Steiner sehr genau

„Im Anfang des Erdenlebens des Christus, gleich nach der Taufe im Jordan, war die Verbindung mit dem Leibe des Jesus von Nazareth die am meisten lose. Noch ganz außer dem Leibe des Jesus von Nazareth war die Christus-Wesenheit.“ (148,52) Sie wurde nicht gleich eins mit den drei Leibern des Jesus von Nazareth,  sondern hat diese „wie eine mächtige Aura nur schwach angefasst“ (148,150). Nach und nach vollzog sich eine immer engere Verbindung der Christus-Wesenheit mit dem Leib, sodass die Christus-Wesenheit dem Leib des Jesus immer ähnlicher wurde.

„Aber immer mehr und mehr machte sie sich ähnlich dem Leibe des Jesus von Nazareth, presste sich, zog sich immer mehr und mehr zusammen in irdische Verhältnisse hinein und machte das mit, dass immer mehr die göttliche Kraft hinschwand. Die Christus-Wesenheit musste fühlen, wie Macht und Kraft des Gottes immer mehr und mehr entwich im Ähnlichwerden dem Leibe des Jesus von Nazareth. Aus dem Gotte wurde nach und nach ein Mensch.“

(148,53)

So schildert Steiner das, was Paulus in Phil. 2, 7 als die „Kenosis“, die „Entäußerung“ Christi bezeichnet: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.“ (Phil 2, 6-7) Diesen Prozess der Menschwerdung Gottes von der Johannestaufe im Jordan bis zum Tod auf Golgatha hat Steiner in seinen Vorträgen über das Fünfte Evangelium eindrucksvoll dargestellt.

Bracker zitiert auch das Geheimnis der Kenosis, bezieht es aber auf etwas anderes, auf die Geburt des Jesus, nach Bracker: des Sohnes, in Bethlehems Stall und setzt sich auch dadurch noch in Gegensatz zu Steiner, dass er das Ereignis der Jordantaufe nicht auf Christus, den Sohn, bezieht, sondern auf den führenden „Geist der Sonnen-Hierarchie“, der durch die Jordantaufe in die Erdenwelt eintrat (KB 7,4). Diese Auffassung ist mit den Darstellungen Rudolf Steiners nicht vereinbar. Die Kenosis bezieht sich auf die Zeit nach der Taufe, durch die der Christus-Logos sein Pleroma, die Fülle seiner Göttlichkeit, gerade ablegen musste, um ganz Mensch zu werden, indem ihm „die Macht und Kraft des Gottes immer mehr und mehr entwich“. Das ist die „Entäußerung“ von der Paulus schreibt.

Ungenügende Quellenlage

Es gibt meines Wissens keine einzige Aussage Rudolf Steiners, welche die These bestätigt, mit der Geburt des Jesus in Bethlehem habe der Sohn Gottes, die zweite Person der Trinität, eine Menschengeburt erfahren. Sehr wohl aber gibt es viele Darstellungen darüber, dass Christus, sich in der Johannestaufe mit dem Menschen Jesus von Nazareth verband und Steiner Christus als den Sohn Gottes bezeichnet (s.u.).

Es ist nicht ausreichend, aus der Fülle der Darstellungen nur drei kleine Absätze aus Vorträgen Steiners zu zitieren und alle anderen Quellen unberücksichtigt zu lassen. An dieser Stelle wäre insbesondere hinzuweisen auf die aktuelle Forschungsarbeit „Wer ist Christus? Beiträge zur Christologie Rudolf Steiners, zur Trinität und zum ICH“[6], die überhaupt nicht erwähnt wird, wohl aber andere Autoren wie Michael Frensch, Sergej O. Prokofieff, Peter Selg. Diese 444 Seiten umfassende Studienarbeit, die aus sieben Arbeitstreffen der fünf Autoren Günther Dellbrügger, Wolfgang Gädeke, Lorenzo Ravagli, Günter Röschert und Frank Linde hervorgegangen ist, wurde im Frühjahr 2020 veröffentlicht und enthält einen umfassenden fast 60-seitigen Anhang mit 200 Quellentexten Rudolf Steiners zu den drei Fragen: I. Christus, der Sohn, II. Christus, der Logos, III. Christus, das hohe Sonnenwesen. Sie dienen einer Zusammenschau der verschiedenen Darstellungen Steiners zu diesen Fragen, eine Methode, die Steiner selbst für die Arbeit mit der Anthroposophie empfohlen hat.[7]

Diese Arbeitsmethode verhilft dazu, nicht zu fixen Ideen oder vorschnellen Urteilen zu gelangen, sondern das Denken immer wieder lebendig zu halten, indem es sich ganz in einen Inhalt nachschaffend einlebt, ebenso in einen anderen, und im inneren Gedankengespräch den Zusammenhang beider, die sich gegenseitig tragen, ergänzen und beleuchten, in lebendiger Denkbewegung herstellt. So wird das Erkenntnisgespräch zu einem inneren Weg, sich der Wahrheit, die es sucht, lebendig anzunähern. Im Umgang mit den Vortragsnachschriften ist schließlich auch zu berücksichtigen, aus welcher Zeit die Darstellungen jeweils stammen, aus der theosophischen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg oder aus der Zeit nach der Weihnachtstagung 1923 und von welcher Qualität die stenografischen Nachschriften sind.

Die Mutterseele der Menschheit

Vielleicht lassen sich Brücken bauen, wenn wir folgende Ergebnisse der Geistesforschung Steiners in das Bild der Jesus-Geburt im Stall von Bethlehem einbeziehen.[8]

Aus den Vorträgen über das Lukas-Evangelium erfahren wir, wer sich in jenem Jesus von Nazareth verkörpert hatte, den das Lukas-Evangelium schildert, es ist die nathanische Seele.[9] Das Lukas-Evangelium führt den Stammbaum dieses Jesusknabens aus der nathanischen Linie des Hauses David, den „eigentlichen Jesus von Nazareth“, wie Steiner einmal sagte (117,17), hinauf bis zum Stammvater aller Menschen, Adam, und bis zu Gott. Diese Seele war zuvor niemals in einem menschlichen Leib verkörpert. Als „Schwesterseele des Adam“ verblieb sie seit der lemurischen Zeit in der geistigen Welt, während die Seele des Adam nach dem Sündenfall den Weg durch die Inkarnationen antrat. Von der geistigen Welt aus erlebte die Schwesterseele des Adam das Schicksal der Menschheit mit, das diese infolge des luziferischen und ahrimanischen Einflüsse erleiden musste und welche Gefahren dadurch drohten. In tiefem Mitleid trug sie das Leid der Menschheit an den Christus im Sonnenbereich heran und ließ sich dreimal von Christus „durchsetzen“, „durchdringen“ und „durchleuchten“, einmal während der lemurischen Zeit, zweimal während der atlantischen Zeit. Sie wandte dadurch die Gefahr für Sinne, die Lebens- und die Seelenkräfte von den Menschen ab. Es war ein „dreimaliges Durchdringen jenes Geistwesens, das später der nathanische Jesusknabe war“ (152,96). Als viertes vollzog sich das Mysterium von Golgatha, „um zu regeln das Ich in seinem Verhältnis zur Welt“ (ebd.). Der Weg dieser Wesenheit ging, so Steiner, von den geistigen Höhen der Sonne durch die Planetensphären, dann die Erde umkreisend, bis es sich in Jesus von Nazareth verkörperte. In dieser Seele, so Steiner, „verseeligte sich der Christus“ (kursiv FL). Durch das Mysterium von Golgatha wurde der nathanische Jesus von der Christus-Wesenheit in seinem Ich „durchsetzt“. „Es ist der nathanische Jesusknabe, der durch Gott Heilende, Jehoschua Jesus.“ (149,60)

In aller Ausführlichkeit stellt Steiner die Beziehung zwischen der nathanischen Seele und der Christuswesenheit dar, die sich über lange Zeiten vorbereitet hatte, er spricht sogar von Zusammenwirken, ja, von Zusammengehörigkeit:

„Uns ist es möglich, durch das, was sich heute in der wahren Anthroposophie enthüllen darf, diese Art von Zusammenwirken, von Zusammengehören der Christus-Wesenheit mitder menschlichen Wesenheit des nathanischen Jesus zu begreifen.“

(149,61)

Sie trug alle Weisheit der Saturn-, Sonnen- und Mondenentwicklung in sich, eine „Ich-Substanz“, die nicht in den Strom der fleischlichen Inkarnationen geleitet wurden, sondern in den Mysterien gehütet und gepflegt wurde. Es war der wiederverkörperte neue Adam, die „Mutterseele der Menschheit“ (114,91). Die Elternpaar ging von Nazareth nach Bethlehem, wo Jesus im Stall geboren wurde.

Und weiter. Das Lukas-Evangelium erzählt von der Ankündigung der Geburt Johannes des Täufers an Zacharias, dem der Engel Gabriel, „der vor Gott steht“, erschien und ihm verkündete, dass seine Frau Elisabeth einen Sohn geboren werde, „und schon vom Mutterleib an wird er vom Heiligen Geist erfüllt sein.“ (Lk 1,15) Und der Engel Gabriel verkündet Maria die Geburt eines Sohnes, dem sie den Namen Jesus geben soll. Und als sie fragte: „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“,  antwortete der Engel:

„Heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“

(Lk 1,31-35)

Verkündigung und Geburt sind nach dem Lukas-Evangelium Wirkungen des Heiligen Geistes, was Rudolf Steiner in seinem Pfingstvortrag in Hamburg am 15. Mai 1910 so ausdrückt, dass der Heilige Geist „seine Kraft zur Erde herniederschickte in der Zeit, als der Christus Jesus in die Erde hinein seinen Geist sandte, der zunächst wiedererschien, als der Jesus getauft wurde von Johannes dem Täufer …“ (118,170). Und etwas später:   

„Derjenige, der den Menschen die Kraft bringen sollte, das allgemein Menschliche immer mehr und mehr im Erdendasein auszubilden, der konnte nur wohnen, als der Erste, in einem Leibe, der vererbt war im Sinne der Kraft des Heiligen Geistes. Dies aber empfing als Verkündigung die Mutter des Jesus. Und im Sinne des Matthäus-Evangeliums hören wir, wie bestürzt Joseph ist …, als er erfährt: die Mutter seines Kindes ist erfüllt, ist «durchdrungen», denn so hat das Wort seine richtige Bedeutung in unserem Sprachgebrauch, von der Kraft eines Geistes, der nicht bloß Volksgeist ist, sondern der Geist der allgemeinen Menschheit! Und er glaubt nicht, dass er mit einer Frau Gemeinschaft haben könnte, die ihm ein Kind gebären könnte, das in sich trägt den Geist der ganzen Menschheit … Und erst nachdem ihm auch aus den geistigen Welten eine Mitteilung gegeben worden war, die ihm Kraft gab, konnte er sich entschließen, einen Sohn zu haben von jener Frau, die durchdrungen und erfüllt war von der Kraft des Heiligen Geistes.

Dieser Geist ist also schöpferisch betätigt, indem er mit der Geburt des Jesus von Nazareth seine Kräfte einfließen lässt in die Menschheitsentwickelung. Und er ist weiter betätigt bei jenem gewaltigen Akt der Johannestaufe am Jordan.“

(118, 173)

Im Credo der Christengemeinschaft, das durch Rudolf Steiner übermittelt wurde, kommt die Wirkung des Heiligen Geistes bei der Geburt des Jesus klar zum Ausdruck:

„In Jesus trat der Christus als Mensch in die Erdenwelt.
Jesu Geburt auf Erden ist eine Wirkung des Heiligen Geistes, der, um die Sündenkrankheit an dem Leiblichen der Menschheit geistig zu heilen, den Sohn der Maria zur Hülle des Christus bereitete.“

(343,509)

Zu dem Geburtsgeschehen gehört es auch, dass der Buddha seine Kräfte in den Astralleib dieses Kindes einstrahlen ließ. Als Buddha in seinem Nirmanakaya erschien, hatte er, so Steiner, die Aufgabe, den Leib des nathanischen Jesus für die Aufnahme des Christus „reif“ zu machen (s. 114, 142).

Welch‘ eine erhabene Geist-Seele tritt uns bei der Geburt des nathanischen Jesus in Bethlehems Stall entgegen! Die durch Äonen von der Wesenheit des Christus durchsetzte, durchdrungene, durchlichtete Mutterseele der Menschheit, Christus, der sich mit dieser „Urseele“ der Menschheit „verseeligte“, mit ihr zusammenwirkte, mit ihr zusammengehörte.

Diese mit Christus innig verbundene nathanische Seele, die der Auferstandene als seine Seelenhülle nahm, erschien dem Paulus im Lichtesschein vor Damaskus. Auf den Zusammenhang mit dem Krishna sei hingewiesen (s. 142,121 f.) Sie lebt mit den Menschen auf der Erde weiter fort und ist in den Tiefen einer jeden Menschenseele zu finden.

„… wie von außen geführt“

Ergänzt wird dieses Bild durch einen Aufsatz Steiners aus dem Jahre 1914 „Was soll die Geisteswissenschaft und wie wird sie von ihren Gegnern behandelt?“ Steiner geht da auf Angriffe ein, welche von Vertretern der religiösen Bekenntnisse gegen die Geistesforschung vorgebracht wurden. Er zitiert Lukas 3,22 (vermutl. nach der Textbibel von 1899) und erläutert das Ereignis der Johannestaufe, dass der „Christus-Geist“ in das Innerste des Wesens Jesu eingezogen sei, nachdem er ihn von der Geburt bis zu seinem dreißigsten Jahr „wie von außen geführt“ habe:

„Besonders anstößig ist für viele Menschen dasjenige, was die Geisteswissenschaft über die Christus-Wesenheit zu sagen hat. … Wenn jemand zum Beispiel sagt, die Geisteswissenschaft behaupte, dass Jesus nicht von jung auf unter der Leitung des heiligen Geistes zum Christus herangereift sei, sondern dass er in den ersten dreißig Lebensjahren nur die leibliche Hülle zubereitet habe, in die sich bei der Taufe durch Johannes der Christus niederließ: so verzerrt er die Ergebnisse der Geisteswissenschaft in diesem Punkte. Die Geistesforschung untersucht, was eigentlich durch die Johannestaufe geschehen ist, die ja ganz unzweifelhaft auch der Bibel gemäß als ein wichtiges Ereignis im Jesus-Leben zu gelten hat. (Es gibt Übersetzer des Evangeliums, welche die wichtige Stelle bei Lukas wiedergeben: «Dieser ist mein vielgeliebter Sohn; heute habe ich ihn gezeuget».) Und diese Forschung findet, dass der Christus-Geist, den Jesus von Nazareth bis zu seinem dreißigsten Jahre wie von außen geführt hat, dann in diesem Jahre in das Innerste seines Wesens eingezogen ist.“

(35,167 f)

Ein gewaltiges Geschehen ereignete sich als Mittelpunktgeschehen der Erdenevolution!

Lange in der geistigen Welt vorbereitet, die nathanische Jesus-Seele von Christus durchdrungen, die Geburt durch den Heiligen Geist verkündet, der seine Kräfte einstrahlen ließ. Christus, und ich ergänze jetzt, der Sohn, der den Lebensweg des Jesus durch Kindheit und Jugend „wie von außen geführt“ hat, bis er bei der Johannestaufe im Jordan im dreißigsten Jahr „in das Innerste seines Wesens eingezogen“ ist. Die Gottheit war anwesend von Anfang an!

„Mit Jesus-Geburt ist eben nur Jesus geboren“

Die ganze Entwicklung des Jesus von Nazareth stand unter der Wirkung der göttlichen Kräfte und wurde so gelenkt, dass sie schließlich zur Johannes-Taufe im Jordan führte und Jesus fähig wurde, den Sohn Gottes in sich aufzunehmen. Alles lief auf dieses Ereignis zu, es war die eigentliche Christgeburt, Steiner nennt sie eine zweite Geburt gegenüber der ersten Geburt des Jesus. Am 21. April 1923 spricht er zu den Arbeitern am Goetheanumbau in Dornach, die zu Beginn des Vortrags Fragen über die Jesusfamilie, die zwei Jesusknaben und die Christus-Wesenheit an ihn gerichtet hatten, über dieses Ereignis so:

„Das drückte man also so aus, dass man sagte: Eine Taube senkte sich herunter, und er bekam den Heiligen Geist in sich …, und in einem Evangelium steht es: Da erscholl eine Stimme vom Himmel: «Dies ist mein vielgeliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe», richtig übersetzt: «Dieser ist mein vielgeliebter Sohn, heute habe ich ihn geboren.» Das heißt, man fasste das, was da im dreißigsten Jahre geschah, richtig wie eine zweite Geburt (kursiv, FL) auf. Mit der Jesus-Geburt ist eben nur Jesus geboren, der begabter war als die anderen, aber der eben noch nicht dieses Fühlen in sich hatte. Das empfand man als etwas außerordentlich Wichtiges. Und das ist die Johannestaufe im Jordan.“ (349, 210)

Die Nachschrift stammt von Helene Finckh, Steiners Berufsstenografin, deren Nachschriften als weitgehend originalgetreue Wiedergabe des Wortlauts Steiners gelten können. Es handelt sich um eine späte Aussage Steiners (1923). Warum sollte er den Arbeitern am Goetheanumbau nicht gesagt haben, dass mit der Geburt Jesu zu Bethlehem der Sohn Gottes geboren wurde, wenn dies das Ergebnis der Geistesforschung wäre, was für jeden verständlich gewesen wäre? Es ist kaum denkbar, dass er in dem Fall auch zu einer solchen Formulierung gegriffen hätte, dass mit der Jesus-Geburt „eben nur Jesus“ geboren wurde. Vielmehr hebt er damit die einzigartige Bedeutung der Johannestaufe hervor, die man als eine „zweite Geburt“ aufgefasst habe und die sich auf Christus, den Sohn bezieht, nach der Stimme des Himmels, den Arbeitern jetzt so nahegebracht: «Dieser ist mein vielgeliebter Sohn, heute habe ich ihn geboren.».

Ein zweites Weihnachtsfest

Im Weihnachtsvortrag vom 25. Dezember 1921 in Dornach spricht Steiner von einem zweiten Weihnachtsfest, durch das wir, ergänzend zum ersten Weihnachtsfest der Christgeburt, den Weg zu dem „Ahnen des übersinnlichen außerirdischen Christus-Wesens“ zurückfinden.

Es soll ein „unmittelbares gegenwärtiges Geburtstagsfest, das Fest eines gegenwärtigen Geschehens“ werden. Die Worte des Lukas-Evangeliums bei der Johannestaufe im Jordan: „Dieser ist mein Sohn, heute ist er mir geboren“ werden zu Worten des neuen, des zweiten  Weihnachtsfestes als eines Festes der inneren Geburt des Christus in der menschlichen Seele.

„Geradeso wie die Sonne materiell ihr Licht heruntersendet aus außerirdischen kosmischen Weiten, so stieg als die Geistessonne der Christus herab zu den Menschen und vereinigte sich mit dem Jesus von Nazareth…. Das Sonnenwesen des Christus stieg auf die Erde herab.

Zu diesem übersinnlichen Verstehen des Christus müssen wir wieder kommen. Wir müssen trotz der inniglichen Verehrung, die wir uns bewahren wollen für das Jesu-Geburtstagsfest, für dasjenige, wozu das Weihnachtsfest allein geworden ist, wiederum den Sinn hinlenken lernen zu der andern Geburt, die da sich vollzieht als eine außerirdische Geburt durch die Johannestaufe im Jordan. Wir wollen ebenso verstehen lernen dasjenige, was durch die Johannestaufe im Jordan in einem bedeutsamen geschichtlichen Symbolum vor unsere Seele tritt, wie dasjenige, was geschehen ist im Stall von Bethlehem oder auch zu Nazareth. Wir wollen die Worte, wie sie das Lukas-Evangelium mitteilt, in der richtigen Weise auffassen lernen: Dieser ist mein Sohn, heute ist er mir geboren. – Wir wollen verstehen lernen das Weihnachtsmysterium in der Weise, dass es für uns wieder werde der Quell des Verständnisses für die Erscheinung Christi auf Erden. Wir wollen zu der Erinnerung an die physische Geburt das Verständnis für die Geistgeburt hinzulernen. …

Das gibt uns als heutigen Menschen das Zweite am Weihnachtsfeste: zu der Empfindung, die wir dem traditionellen Weihnachten, das seit dem 4. nachchristlichen Jahrhunderte heraufgezogen ist, entgegenbringen, zu diesem Herzinniglichen, das wir mitempfinden wollen, soll aus unserem zeitgemäßen Verständnisse heraus ein neues Weihnachten geboren werden, ein zweites Weihnachten zu dem alten Weihnachten.

Der Christus soll durch die Menschheit neu wiedergeboren werden. Das Weihnachtsfest soll der Erinnerung nach ein Jesu-Geburtstagsfest sein; dem Geiste nach soll es werden ein Geburtsfest einer neuen Christus-Auffassung, neu nicht gegenüber den ersten Jahrhunderten, sondern neu gegenüber den Jahrhunderten seit dem 4. nachchristlichen. Und so soll das Weihnachtsfest selber nicht nur ein Geburtserinnerungsfest sein, sondern es soll werden, indem es in der nächsten Zeit von Jahr zu Jahr erlebt wird, ein unmittelbares gegenwärtiges Geburtstagsfest, das Fest eines gegenwärtigen Geschehens. Diese Geburt der neuen Christus-Idee soll sich vollziehen. Und das Weihnachtsfest soll in sich die Intensität gewinnen, dass der Mensch jedes Jahr neu sich gerade zu dieser Zeit ganz besonders darauf besinnen könne: Es muss eine neue Christus-Idee geboren werden.

Aus einem Erinnerungsfest muss das Weihnachtsfest ein Fest der Gegenwart, eine Weihenacht werden für dasjenige, was der Mensch in seiner unmittelbaren Gegenwart als eine Geburt miterlebt. Dann wird das wirklich in unser neueres geschichtliches Werden einziehen, dann wird es sich immer mehr und mehr erkräftigen in diesem geschichtlichen Werden der Menschheit auch in die Zukunft hinein, die es so nötig haben wird, dann wird werden Weltenweihenacht.“

(209, 25.12.1921, S. 159 ff.)

Aus den Quellentexten: Wer ist Christus?[10]

Die Erkenntnis des Christus als Sonnenwesen, als „kosmischen Christus“ war ein zentrales Anliegen Rudolf Steiners. Entsprechende Aussagen durchziehen das ganze Werk. In frühen Vortragsnach-schriften, als Steiner noch innerhalb der Theosophischen Gesellschaft wirkte, erscheint Christus in Verbindung mit Sonnenwesen hierarchischen Ranges (z.B. GA 99, 1907: Feuergeister der alten Sonne; GA 103, 1908: Wesen der sechs Elohim; GA 110, 1909: der höchste der Elohim). In allen folgenden Vorträgen nach Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft ab 1913 spricht Steiner von Christus als Sonnenwesen oder dem Hohen Sonnenwesen, ohne einen hierarchischen Rang zu erwähnen. Vielmehr belegen letzte Aussagen, dass Steiner in dem Sonnenwesen Christus den Sohn erkennt, „die zweite Form der Trinität“ (GA 239, 12.06.1924, S. 217). Die Bezeichnung als Sonnenwesen hierarchischen Ranges ist – sofern die Vortragsnachschriften an diesen Stellen den genauen Wortlaut Steiners wiedergeben – nur unter dem Gesichtspunkt der Wesensdurchdringung des Logos-Sohnes mit den Wesen seiner Schöpfung auf dem Weg des Kosmos durch die Sonne zur Erde zu verstehen.

  • „Dann ist der Sohn, der Christus, in die Menschenwesenheit eingezogen.“(214,65)
  • ist das Sonnenwesen, der Christus, die zweite Form der Trinität.“ (239, 12.06.1924, S. 217)
  • „Das Leben in dem Heiligen Geiste führt zum Leben in dem Christus, oder vor den Christus, vor den Sohn Gottes hin. Und dann lernen wir begreifen, wie in der Tat der Logos übergegangen ist durch das Mysterium von Golgatha von dem Vater auf den Sohn. […] Und der moderne Mensch muss hinzusetzen: Und ich muss finden ein Verständnis des im Fleische lebenden Logos dadurch, dass ich meine Begriffe und Ideen, dass ich meine ganze Welterfassung ins Geistige erhebe, so dass ich durch den Heiligen Geist den Christus, und durch den Christus erst den Vatergott finde.“ (221, 135f.)
  • „Und wir müssen die Vorstellung hervorrufen auf allen möglichen Wegen und Umwegen, dass der Vatergott dem Dauernden und der Sohnesgott, der Christus als der schöpferische Logos demjenigen zugrunde liegt, was das Werdende ist, und was das Werden ist. Deshalb muss man auch das Verständnis für den Vatergott suchen vor dem Entstandenen und das Wirken des Christus in dem Entstandenen.“ (342,147)
  • „An dem Johannes-Evangelium hält man nur fest, wenn man die Sicherheit darüber hat, dass dasjenige, was entstanden ist, dasjenige, was man als Welt um sich hat, durch das Wort entstanden ist, also im christlichen Sinne durch den Christus, durch den Sohn, dass der Vater das substantiell Zugrundeliegende, das Subsistierende ist […]“ (343,154)
  • „Die Persönlichkeit des Jesus wurde fähig, in die eigene Seele aufzunehmen Christus, den Logos, so dass dieser in ihr Fleisch wurde. Seit dieser Aufnahme ist das ‚Ich‘ des Jesus von Nazareth der Christus, und die äußere Persönlichkeit ist der Träger des Logos. Dieses Ereignis, dass das ‚Ich‘ des Jesus der Christus wird, das ist durch die Johannes-Taufe dargestellt.“ (8,148 f.)
  • „Das geschah dadurch, dass der göttlich-geistige Logos, Christus, für die Menschheit sein kosmisches Schicksal mit der Erde verband.“ (Weihnachten 1924) (26,163)
  • „Man hat sich das ‚Wesen‘ Christus als den umgekehrten makrokosmischen Menschen vorzustellen, der aber gleich ist dem zweiten Aspekt der Gottheit, oder des Logos.“ (262,145)

Besonders in den Texten und Vorträgen für christlich-religiöses Leben verwendet Steiner die Bezeichnung Christus praktisch durchgehend für den Sohn des Vater-Gottes; die Ausdrücke Sohnesgott, Christus, schöpferischer Logos werden in einem Atemzug genannt. Besondere Beachtung verdienen die Kultustexte als Texte besonderer Güte, die Christus im Verhältnis zum Vater als den Sohn Gottes, die zweite Hypostase der Trinität, verstehen lässt und nicht als ein hierarchisches Wesen der Sonne:

„Unser Gebet dringe zu Dir, o Weltengrund
Durch Jesus Christus, Deinen Sohn, unsern Herrn.“


(343,464)

Und im Credo:

„Ein allmächtiges geistig-physisches Gotteswesen ist der Daseinsgrund der Himmel und der Erde, das väterlich seinen Geschöpfen vorangeht. Christus, durch den die Menschen die Wiederbelebung des ersterbenden Erdendaseins erlangen, ist zu diesem Gotteswesen wie der in Ewigkeit geborene Sohn.

(343,510)

In dem Buch „Wer ist Christus?“, dem diese Texte entnommen sind, finden sich zahlreiche weitere Quellentexte aus dem Werk Rudolf Steiners, welche die hier behandelten Fragen weiter beleuchten. Für eine vertiefende Arbeit sind jeweils die Gesichtspunkte aufzusuchen,  von denen aus sie dargestellt sind. Sich scheinbar widersprechende Aussagen können von einem höheren Gesichtspunkt aus doch als zusammengehörig verstanden werden, denn die lebendigen Gedanken der Anthroposophie sind nicht abgeschlossen, sondern stets beweglich, sich gegenseitig tragend, stützend und erweiternd in innerer Harmonie des Ganzen. Worte der Sprache erscheinen als Verdichtung des gedanklichen Inhalts. Ein der Sache angemessenes Sprachverstehen bleibt niemals bei dem gedruckten Wort und dem einmal gefassten Begriffen stehen, sondern sucht denkend den Weg zum lebendigen Gedanken wieder aufzuschließen, aus dem es stammt. Dies um so mehr, wenn es um das Verstehen geistiger Wesenheit geht und der Trinität. Es kommt dabei nicht nur auf das gedankliche Erfassen eines Textes an, sondern ebenso auf das Wieder-Loslassen-Könnens einmal gewonnener Vorstellungen. In der Offenheit des immer wieder Neudenkens liegt ein Weg der Annäherung an die zugrunde liegende geistige Wirklichkeit, um die es letztlich geht.

Die Beiträge von Klaus J. Bracker wollen als Beitrag zur anthroposophischen Forschung verstanden wissen. Auch die Redaktion des Korrespondenzblattes macht darauf aufmerksam, dass es „keineswegs um eine Kontroverse zwischen Sachkennern zu Einzelfragen des Evangeliums geht, vielmehr um Kernstücke der Christologie Rudolf Steiners  und damit um Forschungsfragen, die den Zuständigkeitsbereich der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft (Goetheanum) berühren“ (KB 6, 4).

Die Bearbeitung von Forschungsfragen zur Anthroposophie erfordert nun aber zweifellos, wie jede andere wissenschaftliche Arbeit auch, ein sauberes, ihr angemessenes methodisches Vorgehen, das sich bemüht, die jeweiligen Inhalte aus sich heraus zu verstehen. Deren Sinn erhellt sich nur, wenn sie in ihrem jeweiligen Kontext gelesen werden. Einen anderen Weg der Erkenntnis gibt es nicht.

Am Schluss dieses Beitrages möge ein Wortlaut Rudolf Steiners aus einem Autoreferat von einem Vortrag vom 11. Januar 1916 stehen, der geradezu auffordert, den Seelenblick von festgefügten Vorstellungen zu befreien und immer wieder neu im Bewegen der Gedanken die Offenheit für immer Größeres zu suchen, die der Gottesname in sich trägt.

„Und derjenige, der da will Gott mit einem Begriffe umfassen, der weiß nicht, dass alle Begriffe Gott nicht umfassen können, weil alle Begriffe in Gott sind. Aber Gott anzuerkennen, als ein Wesen, das in einem viel höheren Sinne noch als der Mensch, in einem Sinne, den man auch durch Geisteswissenschaft nicht einmal voll ahnen kann, Persönlichkeit hat, das wird insbesondere durch die Anthroposophie so recht den Menschen, ich möchte sagen, natürlich.“

(35,200)

Glücksburg, 24. Mai 2023

Frank Linde


[1] Klaus Bracker, Die christliche Tradition in vollem Sinne ernst nehmen, Teil 1 und Teil 2, in: Korrespondenzblatt Ausgabe 4 und 5, April und September 2022. Die Beiträge haben zu einer Antwort von Wolfgang Gädeke geführt, die wiederum eine Replik von Klaus Bracker nach sich zog: Wolfgang Gädeke, Weihnachten – Jesus-Geburt – Christ-Geburt? – Logos-Geburt?, Korrespondenzblatt Ausgabe 6, Januar 2023. „Die Dogmen sind schon wahr …“ Eine Replik als Antwort an Wolfgang Gädeke, Korrespondenzblatt Ausgabe 7, Mai 2023.

[2] Des Weiteren geht es um Maria als die Gottesmutter und die Jungfrauengeburt, auf die ich hier nicht weiter eingehe, weil schon die vorangehende Sichtweise als nicht begründet erscheint.

[3] Die erste Zahl im Zitatnachweis steht für den entsprechenden Band der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe (GA), die zweite gibt die Seitenzahl an. Das Korrespondenzblatt wird mit KB abgekürzt.

[4] Das hat Steiner einmal überzeugend vorführt: GA 134, S. 16 f.

[5] Sich in diesem Kontext im Wesentlichen auf Rittelmeyer zu stützen, der von einem persönlichen Gespräch mit Steiner berichtet, erscheint nicht ausreichend begründet angesichts der Überfülle der anderslautenden Darstellungen (siehe: Wer ist Christus? Quellentexte im Anhang). Die Inhalte des Gespräches waren nicht öffentlich und von niemanden zu verifizieren. In welchem Kontext hat Steiner sich geäußert? Hat Rittelmeyer es richtig verstanden, vollständig aufgeschrieben? Diese persönliche Mitteilung allein eignet sich nicht als Beleg für die Beurteilung der angesprochenen Fragen.

[6] Frank Linde et al: Wer ist Christus? Beiträge zur Christologie Rudolf Steiners, zur Trinität und zum Ich, herausgegeben von der Ernst-Michael-Kranich-Stiftung, Salzburg 2020.

[7] Siehe GA 130, S. 194 f. und GA 26, S. 55.

[8] Dies erfolgt vor dem Hintergrund der Darstellungen Steiners über die zwei Jesusknaben, die Inkarnation des Zarathustra-Ich im Jesus der salomonischen Linie des Hauses David, der paradiesischen Schwesterseele des Adam im Jesus der nathanischen Linie des Hauses David und aller sich daran anschließender Ereignisse, die vor allem den Sinn hatten, die Leiblichkeit des Jesus von Nazareth so sich entwickeln zu lassen, dass sie Träger der göttlichen Christis-Wesenheit werden konnte.

[9] Die verschiedenen Aussagen Steiners über das Geheimnis der nathanischen Seele habe ich in dem bereits erwähnten Buch „Wer ist Christus?“, a.a.O., auf den Seiten 264-284, dargestellt.

[10] Aus: Linde et al, Wer ist Christus?, a.a.O., S. 423 ff.

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