Eine kleine Liebeserklärung an Georg Maier

Diesen Beitrag habe ich beim Totengedenken Georg Maiers (* 26. Mai 1933 †14. Juni 2016) beigesteuert. Ich bringe ihn hier erneut, weil ich anregen möchte, seine Gedanken zu einer Form der Geistesforschung in den aktuellen Diskurs miteinzubeziehen.

Als ich vor 40 Jahren frisch nach Dornach kam, kam eine hier nicht genannt werden wollende Person von einem Zweigabend im Goetheanum, sichtlich desorientiert und erzählte: «Du, da hat einer geschlagene 90 Minuten über eine Pfütze erzählt, ich sage dir, 90 Minuten: nur Pfütze!»

«Wie sah der denn aus?», fragte ich zurück.

«So ein kleiner mit ziemlich wenig Haaren und Nickelbrille, hat immer erst am Ende des Absatzes gesagt, was er meint, aber das war dann auch nicht so richtig klar.»

«Sprach er oft in Ellipsen wie: ‹nicht wahr?› oder ‹ich mein ja nur› oder ‹ich wollt nur mal sagen› und macht dabei so ein bedeutungsvolles Gesicht?»

«Ja genau, und dann hat er über Spiegelungen auf der Pfütze gesprochen und über den Regen, der in die Pfütze tropfte, weißt du, lauter so selbstverständliche Dinge. Dafür gehe ich doch nicht in den Zweigabend!»

«Du, ich glaube, das war Georg Maier», vermutete ich.

«Ja? Kennst du den?»

«Ja, der betreut mit Jochen Bockemühl zusammen das Studien- und Forschungsjahr im Glashaus. Johannes (Kühl) und ich machen bei ihm gerade (1982) ein Projekt.»

«Sag mal, ist der denn ganz normal?»

«Nein überhaupt nicht, der ist so originell, dass ihn kaum einer versteht! Ich erklär dir jetzt etwas, was ich selbst erst in zehn bis zwanzig Jahren verstehen werde, aber das ist eben auch typisch für Georg Maier, dass man so seine Zeit braucht, bis man ihn versteht: Also, wenn er sich wie ein Kind über eine Pfütze her macht, könnte man ja glauben, dass er das Wesentliche nicht vom Unwesentlichen unterscheiden kann. Aber das sieht nur so aus. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt! Georg würde vielleicht sagen: ‹Also diese Pfütze – nicht wahr …› Und das heißt dann: Diese Pfütze ist nicht eine Pfütze. Oder noch etwas ausführlicher: Wenn Georg über diese Pfütze spricht, dann meint er genau diese Pfütze und nicht irgendeine Prinzip-Pfütze oder eine ‹Pfütze an sich›.»

«Na, findest du das nicht ein bisschen pingelig?»

«‹Ich mein …›, würde Georg vielleicht bedeutungsvoll andeuten. Das heißt dann soviel wie: ‹Ja, richtig kleinlich!›, aber um das zu verstehen, solltest du mal lesen, was Georg in seinem Grundsatzbeitrag ‹Forschung als Hinwendung zur gegenwärtigen Existenz› (1993) geschrieben hat. Lass dich von dem Titel nicht abschrecken! (Der Inhalt ist allerdings auch nicht so einfach verständlich, aber viel einfacher als der Titel …)

Da vergleicht er die Naturwissenschaft mit dem alten Testament: Gesetze werden aufgestellt, die das Einzelne regeln und ordnen. Der Sonderfall ist störend und wird immer auf die allgemeinen Gesetze zurückzuführen versucht; nur wenn es gar nicht anders geht, müssen die Gesetze erweitert werden. Und so ist das in der Naturwissenschaft auch: Naturgesetze bestimmen alles. Und dann fragt er: Wie sähe denn eine Naturwissenschaft des neuen Testamentes aus? Also eine Wissenschaft, wo der Einzelfall die Hauptrolle spielt. (Merkst du schon: Einzelfall – diese Pfütze?).“

„Warum soll der Einzelfall so wichtig sein?“

„Nun, wenn man Wesenserkenntnis treiben will, dann darf man wohl nicht auf das gehen, was alle gemeinsam haben, sondern muss gerade das Besondere aufsuchen.

Das braucht natürlich Unbefangenheit, aber es braucht auch ‹Geländekenntnis›. Ich merke doch erst, was das Besondere ist, wenn ich das Allgemeine kenne. Dann kann aber diese Pfütze plötzlich ein Lichtspiel zeigen, einen Zauberhauch von Wachstumsstimmung oder sogar die Begegnung mit einem Wesen, das sich ihm gerade an dieser Pfütze in diesem Moment nahen wollte.»

«Ach so, aber warum sagt er das denn nicht? Ich habe ihn nicht von Wesen reden hören.»

«Weißt du, ich glaube, der Georg ist einerseits ein Mensch wie du und ich, aber daneben – oder dahinter – oder innen drinnen gibt es noch so einen elementarischen Mitbewohner, mit dem er oft Zwiesprache hält, der ihm auch die absonderlichsten Einfälle zugänglich macht.»

«Hat er das mal gesagt?»

«Nein, nie. Ich weiß auch gar nicht, ob ihm das so wichtig wäre. Absonderlich sind die Einfälle übrigens nur für die, die sie nicht verstehen. Für die übrigen sind sie ausgesprochene Arbeitsaufforderungen.

«Aber wie ist das nun mit dem ‹Mitbewohner›?»

«Naja, Georg kann auch ein Kobold sein: Einmal sagte er mir auf einer Exkursion: ‹Es macht gar keinen Spaß mehr.› Ich sah ihn verschmitzt lächeln. Ich unternahm einen Verständnisversuch: ‹Du meinst Deine Anspielungen?› Er nickte, und das hieß soviel wie: Wenn der andere gar nicht mehr merkt, dass ich etwas hinter dem meine, was ich sage, dann macht es keinen Spaß mehr, etwas Hintergründiges zu sagen.»

«War er denn ein Einzelgänger?»

«Ja und nein. Durch seine Art, das hast du ja bemerkt, erntete er viel Unverständnis – sogar du wolltest ihm schon eine Therapie empfehlen – aber in seinem Innern ist er radikal kommunikativ. Das Gespräch ist für ihn das Hauptforschungsinstrument, der Austausch mit dem Andersdenkenden. Das hat er oft betont und sich auch in Dornach und in der Naturwissenschaftlichen Sektion immer wieder dafür eingesetzt. Gespräche mit ihm sind meist augenzwinkernde Andeutungen, aber durch diese Funkeloberfläche scheint jedes Mal der herzensgute Mensch, mit dem ich ohne Vorbehalte meine Lebenssorgen besprechen würde.

Jetzt sollte ich ja eigentlich noch ein physikalisches Loblied auf ihn singen, denn seine Ansätze in der Quantenmechanik beispielsweise oder seine Untersuchungen zur Farbenlehre, zur Wärmelehre, zur Zeit sprechen von intimer Kenntnis des physikalischen Geländes. Aber das können andere besser besingen. Mir jedenfalls hat er mit seinem „Abschied von der absoluten Wahrheit“ ein Geländer im weglosen Gelände geboten, das mir im rechten Moment Halt gab. Aber was es damit auf sich hat, das musst du in dem erwähnten Artikel selber nachlesen! Ich finde, es lohnt sich …»

Maier, G. (1993): Forschung als Hinwendung zur gegenwärtigen Existenz. In: Elemente d. N. 59.

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