Kulmination wagen

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  • Beitrag zuletzt geändert am:17. Februar 2024
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Eine Replik auf Frank Lindes Leserzuschrift

Diese Replik – in Beantwortung der ausführlichen Überlegungen Frank Lindes zu meinem zweiteiligen Aufsatz über das Ernstnehmen der Tradition – soll knapper gehalten bleiben als jene. Das berührt einen Punkt, den Linde methodisch befragt: Denn ich hielt mich mit den beiden Teilen des Aufsatzes in etwa an die Vorgaben der Redaktion des „Korrespondenzblattes“, dass ein Beitrag in einer Ausgabe desselben den Umfang von 4 Druckseiten im Heft möglichst nicht überschreiten sollte. Dies führte zu meinem eher exemplarischen Vorgehen – unter Verzicht darauf, ganze Vorträge Rudolf Steiners zu referieren. Den einzigen methodischen Mangel meiner Ausführungen sehe ich darin, auf diesen Umstand nicht explizit hingewiesen zu haben. In denselben Kontext gehört, dass die Betitelung der beiden Teile meines Aufsatzes nicht nur ein Steiner-Zitat darstellt, sondern, was Linde unerwähnt lässt, bewusst Bezug nimmt auf die frühere Verwendung eben dieses Zitats in den Beiträgen Günter Röscherts – im Dialog mit Wolfgang Gädeke – in den Ausgaben 1-3 des „Korrespondenzblattes“, unter der Überschrift „Dreieinigkeit Gottes“.

Linde möchte – bezüglich des Begriffs „Tradition“ – Steiners Verwendung derselben Vokabel, im Vortrag vom 20. Mai 1923, eingrenzen auf die Überlieferung zweier Evangelienstellen (Mt 28,20 und Joh 16,12), weil in dem genannten Vortrag insbesondere diese zwei Stellen angeführt werden. Deren letzte lautet: „Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen.“ – Steiner will hier darauf hinweisen, dass im Anschluss an die primäre Offenbarung, die in den Evangelien vorliegt, weitere Offenbarungen (im weitesten Sinne) möglich sein werden, nämlich dann, wenn die Schüler Christi es doch werden ertragen können. Nun denken hier nicht nur Anthroposophen an die fortgesetzte Offenbarung (im weitesten Sinne), die die Anthroposophie bringt. Sondern die Christenheit hat schon viel früher dieselbe Idee zugrunde gelegt, als sich dasjenige ausbildete, was unter „Tradition“ verstanden wird. Denn seit eh und je unterscheidet die christliche Theologie zwei Quellen des Glaubens: Schrift – also vorrangig die Evangelien – und Tradition.

Wollte man Linde folgen, hieße das, Rudolf Steiner zu unterstellen, dass ihm diese Unterscheidung nicht geläufig gewesen wäre. Nein, von den beiden Stellen bei Matthäus und Johannes ausgehend, werden wir darauf hingewiesen, dass die zweite genannte Quelle auch später fortgesetzt fließen wird – nach Abschluss der Ausbildung des Kanons (insbesondere: der Kanonisierung der vier Evangelien). Und zwar in der Tradition, die deswegen eben ernst genommen werden soll.

Rudolf Steiner selbst hat die spirituellen Verhältnisse beschrieben, die u.a. zur Ausbildung der Tradition einst hatten führen können. Er sprach darüber in dem Vortrag „Wie finde ich den Christus?“.1 Hier erfahren wir, dass die Jünger und Apostel um die Zeit des Mysteriums von Golgatha dessen Tiefe nur ahnend verstehen konnten. Bei Abfassung der Evangelium spielte altes Hellsehen eine Rolle, unter Rückgriff auf damals vorhandene Mysterienbücher. Gerade durch ihre Liebe zu dem Christus Jesus jedoch entwickelten sie sich nachtodlich weiter. Sie wurden in der Geistwelt belehrt und kamen so dahin, aus ihren menschlichen Kräften das Mysterium von Golgatha viel tiefer zu begreifen. Als Geistseelen waren sie jetzt so weit, dass sie aus dem nachtodlichen Sein heraus die Erdenmenschen der ersten christlichen Jahrhunderte inspirieren konnten: „Und dann inspirierten sie von der geistigen Welt aus diejenigen Menschen, die hier unten auf der Erde waren.“2 Zu denen, welche solche Inspirationen aufnahmen, die es ermöglichten, das Verständnis des Mysteriums von Golgatha voranzubringen, zählt Steiner just auch die Kirchenväter, deren Arbeiten u.a. in die Formulierung der Dogmen mit einflossen.

Es zeigt sich: Von Rudolf Steiner her gibt es keinen Anlass, das, was die Christenheit unter „Tradition“ versteht, gering zu schätzen.

Hierher gehört auch, dass Linde meine Ausführungen zu dem Liestal-Vortrag von 1916 – über die grundlegende Unterscheidung von geoffenbarten Glaubenswahrheiten und den so genannten Praeambula fidei gänzlich ausgeblendet hat.3 – Ist diese Unterscheidung, mit der Steiner sich an Thomas von Aquin anschließt, demjenigen, der eine möglichst homogene und konsistente Anthroposophie beschreiben möchte, zu unbequem? Das zu grundlegenden Untersuchungen Auffordernde dieses Vortrages liegt ja auch darin, dass darin entgegen mancher Gewohnheit Anthroposophie – als die Ergebnisse von Steiners geisteswissenschaftlicher Forschung – gerade nicht der Ordnung der geoffenbarten Wahrheiten zugerechnet wird, sondern derjenigen der Praeambula fidei, also dem Bereich der dem Menschen möglichen Vernunfterkenntnisse. Hier sieht sich Steiner entschieden in Übereinstimmung mit Thomas. Das aber bedeutet zugleich die Aufgabe, ganz neu über das Verhältnis der Anthroposophie sowohl zu den geoffenbarten Wahrheiten als auch zur Tradition nachzudenken. Und es verträgt sich nicht mit dem Ideal einer möglichst schon auf den ersten Blick konsistenten, in ihren Ergebnissen in sich geschlossenen Anthroposophie.

Rudolf Steiners Forderung, die Dogmen im anthroposophischen Sinne richtig zu verstehen, setzt daher zumindest voraus, sich ebenso unbefangen wie detailliert mit ihnen zu befassen. Dazu konnte ich bei Linde keinen Ansatz ausmachen, auch da nicht, wo er unter der Überschrift „Die Dogmen sind schon wahr“ hervorhebt, dass die Dogmen nicht so zu nehmen sind, wie sie überliefert wurden, und stattdessen auf die „Erkenntnismöglichkeiten der modernen Geistesforschung der Anthroposophie“ verweist. Soll man sich aber, im Umkehrschluss gefragt, diese Erkenntnismöglichkeiten – ihm zufolge – so vorstellen, dass die Dogmen selbst und ihre Entstehung also gar nicht mehr in Augenschein genommen zu werden brauchen? Auch, wenn es sich bei Linde so anhört, in Steiners Intention hat das wohl kaum gelegen.

Wo es unter „… den Sohn zur Erde sendet“ um den Weihnachtsspruch von 1914 geht, betont Linde, dass es in dem dazu gehörigen Vortrag vom 26. Dezember um ein „kosmisch-irdisches Ereignis“ gehe, und, dass dort von der „Geburt in Bethlehem“ nirgends die Rede sei. Damit blendet er aus, wie Steiner selbst diesen Spruch einleitet, nämlich mit den Worten:

„Darum wurde versucht, im Grunde genommen die ganze anthroposophische Weisheit von dem Christus-Ereignis, namentlich von der Weihenacht und ihrer Verbindung mit dem menschlichen Gemüt, in einfache Worte zu fassen, die Ihnen auch hier vorgeführt worden sind.“

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Was aber verstehen wir unter der „Weihenacht“, wenn nicht das Geschehen um die Geburt in Bethlehem? – Ebenso möchte Linde nicht darauf eingehen, dass ich schon im 1. Teil meines Aufsatzes ausgeführt hatte, dass in Verbindung mit demselben Spruch die Rede ist von der „göttlichen Offenbarung“, von den Hirten und dem „Weihnachtskind“. Es sei hier verdeutlicht, dass in dem besagten Vortrag die „göttliche Offenbarung“ wörtlich belegt wird mit der Verkündigung an die Hirten aus dem Lukas-Evangelium (Lk 2,14), die mit den Worten beginnt: „Göttliche Offenbarung in den Höhen […]“.5 Und dass es da außerdem heißt, dass in Folge dieser Offenbarung die Hirten „[…] einstmals gestanden haben vor dem Christuskinde“.6 – Dies zusammengenommen bedeutet doch, dass dasjenige, was Rudolf Steiner hier ausführt, einen Kontext bildet, in dem Bethlehem – und zwar in lukanischer Prägung – ganz im Zentrum steht. Und es ist dabei ausdrücklich von dem „Christuskinde“ die Rede.

Steiners Hinweis auf die große kosmische Vorgeschichte des Christus indessen, so etwa gemäß den Mithras-Mysterien, muss man vollkommen gelten lassen. Er soll das Hinschauen auf das gerade geborene „Christuskind“ ergänzen. – Gerade so aber kann man auch den lukanischen, klar bethlehemitischen Bezug des Ganzen nicht verleugnen, ganz gleich, ob er expressis verbis angesprochen wird oder nicht.

Hier ist hinzuzufügen, dass Linde, indem er bemängelt, dass ich von „Bethlehem“ spreche, während in dem Vortrag vom 26. Dezember 1914 „Bethlehem“ gar nicht erwähnt wird, eines unter Beweis stellt: Dass er in diesem Falle nicht kontextuell und über den Wortlaut hinausgehend gelesen hat. – Dies mag wiederum zusammenhängen mit einem Bedürfnis, das ich meine, an ihm wahrzunehmen: die Geisteswissenschaft als ein überall homogenes Kontinuum zu schildern. Mein Eindruck ist, dass er diesem Bedürfnis diejenigen Stellen im Werk Steiners zu opfern bereit ist, die sich in solche ersehnte Homogenität im ersten Anlauf nicht einfügen lassen. Mein Ansatz ist demgegenüber, gerade die diskontinuierlichen Stellen hervorzuheben, die ein standardmäßiges Verständnis der Anthroposophie zu erschweren scheinen, in Wirklichkeit aber geeignet sind, ihren Schüler nach neuen Verstehenshorizonten Ausschau halten zu lassen. Diese Differenz zu ihm würde Lindes umfangreichen Protest im Ansatz vielleicht erklären.

Dasselbe wird auch deutlich an der Art, wie er umgeht mit Friedrich Rittelmeyer und dessen Auskunft über die von Rudolf Steiner getroffene Unterscheidung zwischen der kosmischen Christus-Wesenheit und dem Logos, dem Sohn. Diese Auskunft bedroht die erhoffte Homogenität und womöglich deswegen wird mit einem Federstrich die Glaubwürdigkeit Rittelmeyers und seiner Wiedergabe der Worte Steiners hinterfragt. Sei das betreffende Gespräch doch nicht öffentlich gewesen und ließe es sich auch nicht verifizieren. Andernorts wird von Linde die Berufsstenographin Helene Finckh implizit als über alle Zweifel erhaben hingestellt. Sie kann nicht auch einmal etwas fehlerhaft wiedergegeben haben? Und der, dem Rudolf Steiner die Leitung der Christengemeinschaft zugesprochen hatte, sei weniger vertrauenswürdig als sie? – Linde spricht von der „Überfülle der anderslautenden Darstellungen“ bei Rudolf Steiner. Das lässt mich an die Art und Weise statistischer Erkenntnisgewinnung denken. Aussagen mit hohen Trefferquoten verheißen Wahrheit – besser: Richtigkeit – und solche mit besonders niedrigen Quoten das Gegenteil. Nochmals, mein Ansatz ist ein diametral anderer: Die Einzelauskünfte, die dem gewohnten Muster zuwiderlaufen, haben für mich das Potenzial, gleichsam einen Türspalt zu öffnen, durch den zu schauen, neue, ungewohnte Perspektiven eröffnen kann.

Um aber Rittelmeyer in Schutz zu nehmen und seine Auskunft zu stärken, ist es gut sich zu erinnern, dass die Unterscheidung des Logos von dem Christus geradezu eine michaelische Aufgabe darstellt:

„Denn Michael verstehen, heißt heute den Weg finden zu dem Logos, den Christus unter Menschen auf der Erde lebt.“

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Und zu der Unterscheidung des Sohnes von dem Christus führt Rudolf Steiner im Zugehen auf Weihnachten, am 23. Dezember 1920 aus:

„Zu den Vaterprinzipien des Weltenalls steht in Beziehung der Christus Jesus: dies vergegenwärtigt uns das Weihnachtsfest. Zu dem, was man gewohnt worden ist das Sohnesprinzip zu nennen, steht der Christus Jesus in Beziehung: das vergegenwärtigt uns das Ostermysterium. Zu demjenigen, was die Welt durchwallt und durchwebt als Geist, steht der Christus in der Art in Beziehung, wie es uns das Pfingstmysterium vergegenwärtigt.“

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Unter der Überschrift „Erdengeburt“ heißt es, ich hätte die Rittelmeyer gegenüber aufgezeigte Unterscheidung im Zuge meiner Aussagen zu dem Vortrag vom 13. April 1922 „nicht durchzuhalten“ vermocht. Dies wird aber wohl nur derjenige so sehen wie Linde, der nicht mitvollzieht, dass ich selbstverständlich implizit differenziert habe zwischen dem in Bethlehem zur Geburt kommenden Sohn und der kosmischen Christus-Wesenheit. Denn die Sicht der kosmischen Wesenheiten auf Den, der da zur Geburt innerhalb der Erdenwelt herabstieg, war fraglos vorrangig die auf den kosmischen Sonnengeist Christus, der seinerseits der kosmische Träger des Sohnes war. Wir als Erdenmenschen werden hingegen insbesondere berührt von eben der bethlehemitischen Geburt des Sohnes – im Sinne der obigen Darlegungen: des „Christuskindes“. Das hier vorliegende terminologische Problem ist meiner Ansicht nach just dadurch zu erklären, dass Rudolf Steiner selbst jene Unterscheidung, die er im Gespräch mit Rittelmeyer vorgenommen hatte, nicht immer gleichermaßen vor Augen hatte. – Insgesamt hat sich Steiner gewiss viel ausführlicher über die kosmische Wesenheit des Sonnengeistes geäußert als über den Sohn. Und womöglich waren auch die anderen kosmischen Wesenheiten gerade seiner, des Sonnengeistes, ansichtig. „Erdengeburt“ und „Menschengeburt“ deuten jedoch auf so eindeutige Aussagen, dass sie in ihrem Zusammenklang auf die Jordantaufe oder gar auf das Ereignis von Golgatha nur angewendet werden können, wenn man ihren Sinn verdreht. Ich denke, Steiner hat tatsächlich Erdengeburt und Menschengeburt gemeint – und die Worte nicht bloß gesagt. Die Erdengeburt als wirkliche Menschengeburt hat eben in Jesus der Sohn durchgemacht.

Es sei angefügt, dass Rudolf Steiner sehr wohl und zudem überaus klar angegeben hat, welchen hierarchischen Rang der Sonnengeist Christus einnimmt. Zugegebenermaßen erfolgte dies noch vor Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft, Ende 1912.9 Dafür geschah es umso eindeutiger. Am 12. Juni 1912 sprach Steiner über die

„[…] Gestalt des Christus in der alten Sonnenzeit, der sozusagen der Herrscher des Sonnenplaneten ist, ein Bild vollster Hingabe an dasjenige, was ringsherum sonst in der Welt ist.“

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Er ist der führende der Sonnengeister der Weisheit, der Kyriotetes. Durch seine große Hingabe wird er geeignet, das während der Zeit der Alten Sonne aus zwölf Richtungen einstrahlende Weltenwort aufzunehmen, ein Vorgang, der nahelegt zu denken, dass sich damit zugleich der Logos als die zweite Person Gottes mit dieser kosmischen Wesenheit verband. – In dieser Verbindung stieg später dieselbe kosmische Wesenheit herab, u.a. durch die Sphäre der Exousiai, auf die ich mich in meinem zweiteiligen Aufsatz ja ebenfalls bezogen hatte.

Hierher gehört auch das, was es zur Kenosis zu verdeutlichen gilt. Ich schließe mich Linde an, der einen der Kenosis verwandten Vorgang auch für den Christus Jesus nachzeichnet, gemäß den Vorträgen Rudolf Steiners über das „Fünfte Evangelium“. Das auf die Jordantaufe folgende allmähliche Immer-mehr-Mensch-Werden, das Steiner da anführt, bezieht sich ganz gewiss auf den kosmischen Christus-Geist. Dies ist aber nicht dasjenige, was Paulus im Philipper-Brief meint und worauf ich mich in meiner Antwort an Wolfgang Gädeke bezog:

„Er, der in Gottgestalt war, erachtete das Gottgleichsein nicht als Beutestück; sondern er entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und ward dem Menschen gleich.“

(Phil 2,7)

Linde übersetzt „nahm Knechtsgestalt an“ mit: „wurde wie ein Sklave“. Doch heißt es in den verschiedenen Übersetzungen von „μορφὴν δούλου λαβών; morphen doulou labon“ fast einhellig: „nahm Knechtsgestalt an“ (λαβών von λαμβάνω, lambano = empfangen, nehmen, annehmen). Solches Annehmen einer Gestalt ist aber als ein einmaliger Akt und nicht als ein sukzessives Geschehen zu verstehen und wird ganz allgemein auf den Akt der Menschwerdung bezogen. Eben dieser Akt erfolgte im Stall von Bethlehem.

Zahlreiche Stellen im Werk Rudolf Steiners, die Linde heranzieht und die von Christus, dem Sohn, sprechen, handeln im Wesentlichen entweder von der Zeit der kosmischen Vorexistenz oder von der Zeit seit der Jordan-Taufe. Hier haben wir zweifellos von einem innigsten Miteinander-Verbundensein der zweiten Person Gottes und der kosmischen Christus-Wesenheit auszugehen. Es geht in der Blickrichtung meines zweiteiligen Aufsatzes allerdings darum, die Beiden ihrer ursprünglichen, unterschiedlichen Herkunft nach differenziert zu verstehen: als wahrhaft göttlich auf der einen, als geschöpflich – d.h. als ein Geschöpf, und sei es auch ein sehr hoch stehendes kosmisches Geschöpf – auf der anderen Seite.

Für mein Verständnis vermögen diese vielen Stellen aber eines nicht: die Wertigkeit der wenigen anderen Stellen herabzumindern, die dem bloß scheinbar notwendigen Desiderat einer durchgängigen Konsistenz und Kontinuität, überall und sogleich auf den ersten Blick sich erschließend, entgegenstehen. – Eine neue Stufe von Homogenität und Konsistenz kann sich vielmehr demjenigen ergeben, der bereit ist, einen „Rudolf Steiner in Bewegung“ zu denken, ihn prozess- und weniger ergebnisorientiert zu denken, einen Rudolf Steiner, der nicht ein geschlossenes System, sondern einen auf die Zukunft hin offenen Organismus höherer Erkenntnis verkörpert.

Diese Prozessorientiertheit in dem, was er verkörpert, findet sich auch bei Steiner selbst thematisiert – in einem nicht unbedeutenden Zusammenhang, nämlich da, wo es um die Zukunft der anthroposophischen Bewegung geht. Gemeint ist die Michael-Prophetie. Am 28. Juli 1924 führt er aus, dass von all denen, die im 15. Jahrhundert im Geistbereich durch Michael belehrt und zu Beginn des 19. Jahrhundert – ebenfalls im Geistbereich – Zeugen dementsprechender kosmischer Imaginationen wurden, zunächst nur eine erste Gruppe in die Erdenwelt eintrat: vor allem aristotelisch gestimmte Seelen, die bei der Begründung und ersten Ausarbeitung der Anthroposophie durch den Geisteslehrer dabei waren. Weiter heißt es, dass diese eine künftige Gemeinsamkeit vorzubereiten hatten – Gemeinsamkeit mit der anderen großen Gruppe, jener der überwiegend platonisch gestimmten Seelen. Denn gegen Ende des 20. Jahrhunderts sollten diese sich ebenfalls verkörpern, sollten außerdem auch die Seelen der ersten Gruppe sich erneut inkarnieren. Durch beider Gruppen Gemeinsamkeit sollte verwirklicht werden

„[…] die völlige Offenbarung dessen, was übersinnlich durch die genannten Strömungen vorbereitet worden ist.“

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Was heißt das für die in dieser Replik bewegten Fragen? Es ist ein klarer Erweis der Nicht-Abgeschlossenheit der Anthroposophie. Das Gesamt dessen, was bis 1925 verwirklicht wurde, stellt unter dem obigen Gesichtswinkel – ebenso wie das andere, was zum Teil gleichzeitig im Übersinnlichen vorbereitet wurde – tatsächlich eine Vorbereitung dar. Das besagen die zitierten Worte. Die angeführte „völlige Offenbarung“ bedeutet, dass dasjenige, was dann in Gemeinsamkeit der karmischen Gruppen verwirklicht werden wird, über dasjenige, was auf dem physischen Plan bereits seit 1925 vorliegt, gewiss hinausgehen wird. Darin liegt die in der Michael-Prophetie gemeinte Kulmination der anthroposophischen Bewegung.

N.B.: Als prozessorientiert verstehen sich auch mein zweiteiliger Beitrag für das „Korrespondenzblatt“ sowie diese Replik in Beantwortung der Einwürfe Frank Lindes; d.h. als Versuche, einzelne Fragestellungen auszuleuchten, die sich aus der Arbeit mit dem Werk Rudolf Steiners ergeben und die m.E. noch intensiver als bisher geschehen diskutiert werden sollten.

Appendix zu dieser Replik:

Frank Linde zitiert aus dem Credo der Christengemeinschaft – einem Bestandteil der kultischen Wortlaute der Menschenweihehandlung; u.a. diesen Satz:

„Jesu Geburt auf Erden ist eine Wirkung des Heiligen Geistes, der, um die Sündenkrankheit an dem Leiblichen der Menschheit geistig zu heilen, den Sohn der Maria zur Hülle des Christus bereitete.“

aus der Menschweihehandlung

Dies gilt es, genauer in den Blick zu nehmen. Denn, falls es sich bei der Geburt des Jesus, des Sohnes der Maria, um eine „ganz gewöhnliche Geburt“ eines Erdenmenschen handelte, müsste man dann nicht fragen, ob also auch jede gewöhnliche Menschengeburt eine „Wirkung des Heiligen Geistes“ sein müsste? Wenn solches Bewirken der Geburt seitens des Heiligen Geistes allerdings kein Alleinstellungsmerkmal für Jesus wäre, sondern ein für alle Menschen gültiges Geschehen meinen sollte, dann müsste man sich fragen, warum Rudolf Steiner diese Formulierung als eine besondere Charakterisierung Jesu hier verwendete. – Ich verstehe dieselbe Formulierung vielmehr in dem Sinne, dass sie etwas beschreibt, was einzig für Jesus gilt (für Leser mit anthroposophischem Hintergrund dürfte hier auf der Hand liegen, dass es sich hier um den lukanischen Jesusknaben handelt).

Das Bewirken der Geburt Jesu – durch den Heiligen Geist – ist demgemäß zu verstehen als sehr nahe stehend dem, was in den großen Konfessionen der Christenheit ebenfalls geglaubt wird.

Auch im Nachstehenden geht es um die schon früher zitierten Worte Rudolf Steiners, gerichtet an Friedrich Rittelmeyer, nach denen wir zu unterscheiden haben zwischen Christus, dem Höchsten der Sonnen-Hierarchie, und der zweiten Person der Gottheit, dem Logos.

Aus der trinitarischen Eingangsepistel der Menschenweihehandlung:

„Im Erleben des Christus in unserer Menschheit erfühlen wir den Göttlichen Sohn. Er waltet als das Geistwort durch die Welt. Er schafft in allem, was wir schaffen. Unser Wesen ist sein Schaffen. Unser Leben ist sein schaffendes Leben. Er schafft durch uns in allem seelischen Schaffen.“

G. Dellbrügger: Im Herzland. Zur Esoterik des christlichen Jahres. Stuttgart 2016. S. 236.

Wir erleben den Christus – und in diesem Erleben erfühlen wir den Sohn. Verweist uns dies nicht auf die in Rede stehende Differenzierung? – Eine mögliche Antwort findet sich in dem zweiten Satz des Credos, in dem man derselben Differenzierung begegnet:

„Christus, durch den die Menschen die Wiederbelebung des ersterbenden Erdendaseins erlangen, ist zu diesem Gotteswesen wie der in Ewigkeit geborene Sohn.“

https://www.christengemeinschaft.at/de/allgemein/gottesdienst/bekenntnis.html

Christus ist also nicht identisch mit dem in Ewigkeit geborenen Sohn – er ist zu dem väterlichen Gotteswesen wie der in Ewigkeit geborene Sohn. Das Wort „wie“ jedoch ist das Wort einer Vergleichung. Christus und der Sohn werden miteinander verglichen. Dies ist nur möglich, wenn sie zwei sind. Gewiss, zwei, von denen seit Urzeiten Einer dem Anderen aufs Höchste ähnlich wurde.

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1 R. Steiner: Wie finde ich den Christus? (Auszug aus GA 182). Dornach 1986. Vortrag, 16.10.1918.

2 Ebd. S. 39.

3 Vgl. R. Steiner: Philosophie und Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze 1904-1923 (GA 35)., insbesondere S. 260 (unten) ff.; vgl. auch „Korrespondenzblatt“ (KB) Ausgabe 5, S. 5. Sowie KB Ausgabe 7, S. 6.

4 R. Steiner: Okkultes Lesen, okkultes Hören (GA 156). S. 187 f.

5 Ebd. S. 188.

6 Ebd. S. 201.

7 R. Steiner, Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie. Das Michael-Mysterium (GA 26). S. 97 f.

8 R. Steiner, Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen (GA 202). S. 214.

9 Mir hat sich allerdings nicht erschlossen, was für ein Kriterium es in Lindes Perspektive darstellen soll, ob Steiner eine Aussage traf: vor oder nach Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft.

10 R. Steiner: Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophie und Philosophie (GA 137). S. 190

11 R. Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, Bd. III (GA 237). S. 118

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