Leitsätze zur Meditation

Dieser Beitrag von Rolf Heine und Andreas Heertsch entstand aus einer Anfrage der Tagungsverantwortlichen für die Michaeli-Welttagung 2023 am Goetheanum, in der die „Initiative anthroposophische Meditation“ (früher Living Connections/Goetheanum Meditation Worldwide) ein Forum mit dem Titel „Meditation!“ veranstaltet hatte.

Meditation!

Unter Meditation verstehen wir eine Form der Bewusstseinsschulung. Sie kann auf unterschiedliche Ziele inhaltlich und methodisch ausgerichtet sein wie z.B.

  • Körperliche und seelische Gesundheit
  • Bewusstseinserweiterung, neue Wahrnehmungsqualitäten, Zusammenwirken mit geistigen Wesen
  • Verbesserung der mentalen Leistungsfähigkeit und Authentizität
  • Wirksamkeit im Zeitgeschehen mit geistigen Mitteln
  • Selbsterkenntnis

Meditation ist ein Werkszeug, um sich solchen Zielen durch Bewusstseinskraft anzunähern. „Werkzeug“ ist dabei ein Bild, das zum Ausdruck bringt, dass Aktivität und Können notwendig sind, um etwas ins Werk zu setzen. Ein anderes Bild ist die „Landschaft“, die es zu erkunden gilt, in der sich neue Ansichten und Räume öffnen, je nach Ort und Zeit, in der sich die Landschaft darbietet.

Jedes Werkzeug bedarf einer sachgemäßen Handhabung, und jeder Weg birgt Unvorhergesehenes. Jede Änderung der Bewusstseinsart, bedarf der wachen Beziehung zum Alltagsbewusstsein.

Anthroposophische Meditation knüpft an die dem Menschen vertrauten Bewusstseinskräfte Denken, Fühlen und Handeln an. Sie intendiert eine harmonische Entfaltung und Verstärkung dieser Bewusstseinskräfte. Eine harmonische Entwicklung ist vor allem dann gegeben, wenn die Übungs­schritte in möglichster Wachheit und Klarheit erfolgen, schrittweise das mehr traumartige Fühlen beleben und schließlich das Handeln mit Liebe durchdringen. Anthroposophische Meditation wird meist von weiteren Übungen begleitet, welche das harmonische Verhältnis von Denken, Fühlen und Handeln unterstützen. In der anthroposophischen Literatur werden Übungen dieser Art „Nebenübungen“ genannt.

Meditationswege wurden und werden in der Kulturgeschichte vielfach beschrieben. Anthroposophie versteht sich als Geisteswissenschaft. Als solche rezipiert sie alte und neue Meditationswege und stellt diese in ein Verhältnis zu ihrem eigenen originären Ansatz.

Aus der Vielfalt der meditativen Ansätze betont Anthroposophie diejenigen, die auf Erkenntnis ausgehen, sei es als Kontemplation (Betrachtung), Bildmeditation (aktive Herstellung innerer Bilder), als Wort- oder Spruchmeditation (Durchschreiten sich eröffnender Bedeutungsebenen), als Bewegungsmeditation (ungeteilte Anwesenheit im bewegten Leib), oder als Situationsmeditation (Vergegenwärtigung einer bestimmten geistigen Entwicklungsstufe). In jedem Fall geht es um ein waches Entwickeln des eigenen Bewusstseins.

Die ersten Schritte auf einem bewusst gewählten meditativen Weg führen, wenn sie sachgemäß ausgeführt werden, meist zu raschen, wenn auch manchmal zunächst nur vorübergehenden positiven Resultaten in Bezug auf Gesundheit, mentale Leistungsfähigkeit oder Erweiterungen des Bewusstseinshorizonts. Gleichsam im Schatten dieser positiven Erfahrungen, können aber auch Schwierigkeiten und Hindernisse auftauchten, zum Beispiel, wenn angestrebte Übungsziele nicht wie vorgestellt erreicht werden, oder wenn Schritte in der Selbsterkenntnis bedrückende Schwächen oder Schuldgefühle zutage fördern.

Solche Hindernisse können selbst den ernsthaft Übenden zweifeln lassen, ob der eingeschlagene Weg der richtige sei, oder ob man selbst geeignet oder bereit sei, die Strapazen einer meditativen Schulung durchzustehen. Neben erhebenden und erhellenden Momenten gehören offensichtlich Erlebnisse des (vermeintlichen) Scheiterns in das Erfahrungsspektrum postmoderner Bewusstseinsschulung.

Alle ernsthaften Meditationswege kennen Hindernisse dieser Art und bieten Hilfestellungen und Werkzeuge an, um durch immer reifere Erfahrung letztlich zum Erkennen des eigenen Wesens und der damit verbundenen Verantwortung für das eigene Lebensprojekt zu gelangen.

Eine ernstzunehmende Kritik an bewusstseinstransformatorischen Praktiken besteht darin, dass mit der allmählichen Veränderung des Bewusstseins der Beurteilungsmaßstab für die Wirklichkeit der herbeigeführten Erlebnisse verloren gehen könnte. Handelt es sich tatsächlich um die Erschließung neuer Bewusstseinsräume oder um Zerr­bilder der Wirklichkeit? Entfremdet die meditative Praxis den Meditierenden von seinen persönlichen und sozialen Verantwortungen? Oder löst sie gar die gesunde Persönlichkeitsstruktur auf und macht den Meditierenden gleichsam zum mani­pulierbaren Avatar? Werden sich solchermaßen manipulierte Persönlichkeiten nicht zwangsläufig in sektenartigen Strukturen aus dem gesellschaft­lichen Diskurs verabschieden und zur sozialen Spaltung beitragen, anstatt die angestrebte Befreiung und Gesundung des Individuums in Verantwortung für die Welt zu befördern?

Auch um dieser Gefahr zu begegnen, fordert anthroposophische Meditation immer auch die kritische Reflexion der eigenen meditativen Praxis. Erst die Rezeption fremder Erfahrungen, ggf. deren Prüfung, die Beschreibung eigener Erkenntnis- und Veränderungsprozesse und die Formulierung von Einsichten in angemessener und verständ­licher Sprache berechtigen den meditativen Weg als einen geisteswissenschaftlichen Weg zu bezeichnen.

Dies gilt auch und im besonderen Maß für die Rezeption von traditionellen und gegenwärtigen Anleitungen zur Meditation und das Verhältnis zu ihren Lehrern und Protagonisten. Diese sind dort zumeist am Beginn, aber auch für den Fortschritt in der meditativen Praxis unentbehrlich. Gleich einer Landkarte beschreiben sie unbekanntes Terrain und weisen auf Bemerkenswertes oder Gefährliches hin. Erfahrungsberichte dieser Art sollen mehr und mehr durch eigene Erfahrungen ergänzt oder ggf. korrigiert werden. Wenn sie innerlich geprüft und verdichtet wurden, können sie in den Diskurs mit anderen Übenden gebracht werden.

Anthroposophische Meditation könnte so zu einer für unsere Zeit angemessenen Kulturtechnik entwickelt werden. Dies erscheint heute von besonderer Notwendigkeit, da KI, VR und das ambivalente Verhältnis veröffentlichter Meinungen zu Wahrheit und Wirklichkeit, eigene, weltferne Bewusstseinsräume erschaffen. Kann das Seelenleben des Menschen sich gegen diese Entwicklung abgrenzen und sich die eigene Urteilsfähigkeit erhalten? Kann Meditation im oben charakterisierten Sinn ein Mittel sein, um eigene, authentische innere Bilder gegen die suggestiven Bilder der mo­dernen Medienwelt aufzubauen? Können wir die schöpferische Kraft unseres Denkens, Fühlens und Handelns einsetzen für die Erkundung jener inneren Landschaften, deren Teil wir sind und aus der wir die Welt und uns selbst beurteilen?

Leitsätze

  1. Im Zentrum der anthroposophischen Schulung steht der aus Erkenntnis handelnde Mensch. Meditation ist in dieser Schulung ein Mittel die Erkenntnisgrenzen in voller Bewusstseinsklarheit zu erweitern.
  2. In diesem Rahmen kann die Pflege von Meditationen in verschiedenen Richtungen Wandlungen hervorrufen: Zunächst führen Übungen der Achtsamkeit zu einem bewussteren Ergreifen der eigenen Leiblichkeit, sodass diese in ihrer gesundenden Kraft unterstützt wird. Im Weiteren werden durch fortgesetztes Üben Denken, Fühlen und Wollen in ihren Eigen­arten so gestärkt, dass sie vom Erkennenden zu Wahrnehmungsorganen umgebildet werden können.
  3. Diese Entwicklung wird gesichert durch begleitende Übungen („Nebenübungen“), die das Ziel haben, die Souveränität des Erkennenden über seine erstarkenden Seelenkräfte zu wahren.
  4. Der Meditierende kann im Verlauf der Übungen bemerken, dass sich sein Bewusstseinshorizont weitet, dass er sich – zunächst fast unmerklich – in Verfassungen findet, die über sein bisheriges Gegenstandsbewusstsein (bloß vorstellendes Bewusstsein) hinausgehen.
  5. Diese Erlebnisse sind meist begleitet vom Gewahrwerden eigener Schwächen, die mitunter sogar zunächst diese neue Erlebnisqualität überlagern können. Diese Schwächen können sich in einer bizarren Gestalt, dem Doppelgänger verbildlichen. Sie zeigen, dass die sich bilden wollenden Wahrnehmungsorgane Zerrbilder liefern, solange diese Schwächen nicht genügend gemeistert werden.
  6. Mit weiterer Entwicklung kann der Übende bemerken, dass diese Schwächen sich ausnehmen wie die Bekleidung eines Begleiters („Hüter der Schwelle“), der die Erweiterung des Bewusstseins soweit begrenzt, dass die eigene Souveränität angesichts dieser Schwächen durch übersinnliche Erfahrungen nicht gefährdet wird.
  7. In den Bereichen, in denen diese Souveränität bereits genügend stabilisiert ist, wird dieser „Hüter“ zu einem geistigen Berater, der den Erkennenden begleitet, wenn er in der Lage ist Erfahrungen in der geistigen Welt zu machen und zu ertragen.
  8. Im Einleben in diese Welt kann sich der Erkennende in einem hierarchisch gestalteten Weltengrund getragen erleben und sich in einem Wesen finden, das seine weitere Entwicklung bei allen Schwächen liebevoll bejaht. (Christus)
  9. In solchen Entwicklungsstufen werden Verantwortlichkeiten sichtbar, die dem aus Erkenntnis Handelnden zur Herausforderung werden, sich in seiner Umgebung zu engagieren. Eigene Entwicklung und Übernahme von Verantwortung scheinen sich wechselseitig zu bedingen.
    In der Medizin kann Meditation zum Quell der Heilung werden; in der Landwirtschaft kann sie ein Handeln im Einklang mit Erde und Kosmos befeuern; in der Naturwissenschaft kann Meditation ein Handeln aus der Nähe zu Naturwesen beispielsweise im Hinblick auf das Klima fördern; in der Pädagogik kann sie das Unterrichten aus den Entwicklungskräften des Kindes anregen.
  10. Solche Entwicklungswege führen zu den Erkenntnisstufen Imagination, Inspiration und Intuition. Anthroposophie bietet hierfür eine Vielzahl von Sprüchen, Bildern, Texten und Symbolen zur Meditation an. Ein besonderer Meditationsweg ist der sogenannte Seelenkalender, der den Jahres­kreislauf in 52 Wochensprüchen darstellt.
    In der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft wird mit einem inneren Entwicklungsweg in Form von 19 Meditationsstufen gearbeitet, die typische Situationen und Entwicklungsstufen vor und jenseits der Schwelle zur geistigen Welt beschreiben.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Ronald Templeton

    „Gleichsam im Schatten dieser positiven Erfahrungen, können aber auch Schwierigkeiten und Hindernisse auftauchten, zum Beispiel, wenn angestrebte Übungsziele nicht wie vorgestellt erreicht werden, oder wenn Schritte in der Selbsterkenntnis bedrückende Schwächen oder Schuldgefühle zutage fördern.“

    Warum wird der Leser hier alleine gelassen. Wie kann man ihm helfen über den Graben `rüber zu kommen?

    „Kann Meditation im oben charakterisierten Sinn ein Mittel sein, um eigene, authentische innere Bilder gegen die suggestiven Bilder der modernen Medienwelt (AI und VR) aufzubauen?“

    Diese Behauptung scheint mir ein bisschen dünn, denn es gibt viele Formen der authentischer innerer Bilder: Drogen, Nahtod Erlebnisse, sich an die Grenze des Erstickens bringen usw., aber die Quelle der Bilder da bleibt unklar. Der Weg der Anthroposophie baut auf die Seelenschulung auf: z.B. auf den Erwerb der 6 Eigenschaften des Herzchakras. (Siehe „Geheimwissenschaft GA 13 S.345ff). Erst dadurch entsteht das Organ für die übersinnlichen Wahrnehmung. Was man wahrnimmt spielt in dem Bereich des Erlebens und verflüchtigt sich sehr schnell. Will man dieses Erlebnis festhalten muss man es in Bildern fassen, wie man vorher Erlebnisse in begrifflicher Form beschrieben hat, um sie mitzuteilen. Die Imagination ist dann die Einkleidung, die auf dieser inneren ins Bild umsetzenden Tätigkeit beruht. Das macht jeder anders. Aber das Erlebnis kann bei verschiedenen Menschen gleich sein.

  2. Andreas Heertsch

    Warum wird der Leser hier alleine gelassen. Wie kann man ihm helfen über den Graben `rüber zu kommen?

    Gute Frage! Ziel des Textes war eine knappe Übersicht („Leitsätze“). Glücklicher Weise gibt es einen Beitrag von Ronald Templeton, der diese Fragen anschneidet in Ausgabe 11.

    Auch soll ab Ausgabe 11 die Rubrik: Beiträge zur Geistesforschung dem Umgang mit geistigen Erfahrungen und den zugehörigen Gefahren und Hindernissen dienen.

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