HINENI! HIER BIN ICH!

  • Beitrags-Kategorie:Judentum / Religion / Reszesionen
  • Beitrags-Kommentare:0 Kommentare
  • Beitrag zuletzt geändert am:11. Dezember 2023
  • Lesedauer:15 min Lesezeit

Ein Trialog von spirituellem Judentum,
philosophischen Fragen und anthroposophischen Ausblicken

Das neue Buch von Janos Darvas

„Wohl, es wurde gesiebt; aber: ich bin ein Sieb.“[i]

Wissen Sie, woher die kleine Einbuchtung kommt, die wir alle an der Oberlippe haben? Kurz vor unserer Geburt hat ein Engel seinen Finger auf unseren Mund gelegt – wir sollten nicht verraten, was wir im Vorgeburtlichen erlebt haben. Dadurch aber haben wir es selbst auch vergessen …

Diese kleine legendenhafte Erklärung aus dem Talmud ist einer der überraschenden Einblicke in die jüdische spirituelle Kultur, die uns Janos Darvas in seinem neuesten Buch wie nebenbei gibt. Sie weist auf geistige Erfahrungen hin, die bei der Inkarnation aus dem Bewusstsein verschwinden. Damit erklärt sie auch, warum wir aktiv an einer Bewusstseinssteigerung arbeiten müssen, wenn wir ein freies Verhältnis zu unserem geistigen Ursprung gewinnen wollen. Spuren geistiger Eindrücke haben sich allerdings bis in unseren Körper eingeprägt. Dahinter steht die Idee der Wiederverkörperung, die im jüdisch-theosophischen Schrifttum und in chassidischen Erzählungen verbreitet ist. Janos Darvas‘ Buch ist auf 150 überschaubare Seiten eine erstaunlich flotte und zugleich gediegene Einführung in die jüdische Kulturwelt. Ich entdecke dadurch erst recht, wie diese als Ganze von einer Spiritualität durchdrungen ist, die mich und jeden Menschen angeht. Ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur spirituellen Ökumene der grossen Weltreligionen!

Aber das neue Buch ist noch mehr. Es ist zunächst die Antwort auf die Frage von Jens Heisterkamp, ob er (Darvas) „ein Buch über jüdische Mystik und Anthroposophie schreiben könnte“. Ja, das konnte er, weil er seit Jahrzehnten mit Anregungen aus dem Judentum und aus der Anthroposophie Rudolf Steiners lebt und seit knapp einem Vierteljahrhundert das mangelhafte Bild des Judentums, das auch im anthroposophischen Milieu zum Teil kursiert, zu korrigieren versucht.[ii] Im Judentum ist er aufgewachsen, er kennt „den Umgang mit der jüdischen Liturgie“ und der hebräische Bibel ist ihm „in der Originalsprache zugänglich“. Später hat er sich ein eigenständiges Verhältnis zu dieser Tradition erarbeitet. Gegen Ende seines Philosophiestudiums kam er zudem mit der anthroposophischen Heilpädagogik in Kontakt, wurde dort als Erzieher, Lehrer und Ausbilder tätig, und stiess auf Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit. Diese verschiedenen Fäden laufen in seinem Buch zusammen. Das macht es schliesslich und vielleicht vor allem zu einer originellen und gegenwartsgemässen Einführung in praktische Spiritualität überhaupt. Originell schon durch den jüdischen Einschlag, aber vor allem durch die freie, individuelle Gestaltung des Behandelten durch den Autor.

Was heisst „spirituelle Praxis“?

Gemeint ist die Suche nach Erfahrung der geistigen Innendimension der Welt, die allerdings nur durch die dazu erforderlichen transformativen Prozesse in der Seele des Suchenden gelingen kann. Um den Geist in der Welt zu finden, muss der Suchende ihn in sich selbst entfachen. Das verlangt, dass er sich zu einem „existenziellen Tun“ aufrafft. Ohne diese eigene Tätigkeit kann es kein wirkliches Verstehen dessen, worum es geht, geben. Aber man muss auch verstehen, was und wie es zu tun ist. Das ist kein „Zirkel“, meint Janos Darvas, sondern eine Spiralbewegung, „ein sich selbst tragender Prozess“, auf den man sich nur einlassen muss. Während dieser Bewegung spürt man dann, dass man auf einem fruchtbaren Weg ist, weil man „Präsenz“ erlebt, „Gegenwärtigkeit“ durch Tun und Empfangen zugleich. Es findet „Begegnung“ im Innern statt, die dazu führt, dass man sich selbst fortwährend neu interpretieren muss, in wachsender Erhellung der eigenen Existenz: Selbsterkenntnis als „praktizierte Selbstgestaltung“ aus der Wahrnehmung eines Werdenden, eines „Möglichkeitsmenschen“ in sich, der sich von dem bisher Gewordenen unterscheidet. Der Weg wird zu einem „Übergang ins Freie, Offene, Ungesicherte“.

Von dem, was ich hier abstrakt referiere, legt Janos Darvas‘ Buch ein konkretes Zeugnis ab. Es ist ein Bericht – aus der Sache heraus immer ein Zwischenbericht – über den geistigen Weg, den ein Einzelner gegangen ist und weiterhin geht, der die Schicksalsgegebenheiten seines Lebens aktiv und produktiv aufgreift. Es ermutigt mich und wohl auch andere Leser, es ihm von den eigenen Ausgangspunkten aus und in eigener Verantwortung nachzutun. Und es weckt Vertrauen in den Autor, auch wenn zunächst Stolpersteinen aufzutauchen scheinen – wie bei der Frage nach der Bedeutung von Tradition und Religion.

Welche Rolle spielt Religion?

Das spirituelle Leben spielt sich, wie gesagt, zwischen dem gewordenen und dem werdenden Menschen ab. Der Kompass zur Orientierung liegt im eigenen Inneren. Laut Janos Darvas ist dies auch der Kern traditioneller Lehren, wenn sie von innen erfasst werden. Darum wagt er es, seinem Buch den Titel: „Auf allen deinen Wegen erkenne Ihn!“ mitzugeben, damit Bezug nehmend auf eine Stelle im „Testament des Baal Schem Tow“ (einem chassidischen Übungsbuch vom Ende des 18. Jahrhunderts), die wiederum einen Talmud-Text kommentiert. Was hat die Gegenwart mit solchen alten, zum Teil uralten Texten zu tun?

Religiöse Traditionen tragen heute kaum mehr von sich aus. Die „neuzeitliche Konfiguration der Seele“ – wie Janos Darvas selbst sie charakterisiert – ist stark auf äussere Objekte bezogen, unterwirft sich nicht gerne der Tradition und ihren Autoritäten, sondern legt den grösseren Wert auf das eigene Hinschauen und Urteilen. Wer ein geistiges Bedürfnis spürt, macht sich auf die Suche nach eigenen Erfahrungen. Auch Janos Darvas übernimmt nichts „einfach so“. Er identifiziert sich mit keiner Gruppe, er studiert die Schriften, auch die Kommentare akademischer Spezialisten, ohne selbst einer von diesen sein zu wollen, er siebt selbständig das Material, trifft seine eigene Wahl der Motive, riskiert eigene Interpretationen. Aber Achtung: nicht subjektiv-willkürlich! Seine Suche ist der Wahrheit und Wirklichkeit verpflichtet. Bei aller persönlichen Sym- und Empathie ist ihm deshalb auch „seelische Distanz“ zu dem behandelten Stoff „unverzichtbar“. Diese dient der Fähigkeit, über sich selbst hinaus der angestrebten Wahrheit näher zu kommen. Selbstdistanzierung und Selbsttranszendierung nennt der jüdisch-österreichische Psychiater Viktor Frankl die zwei menschlichen „Urvermögen“, die auch als Ich-Tätigkeiten bezeichnet werden können.[iii] Darin liegt, meine ich, das eigentlich Zeitgemässe dieser spirituellen Praxis.

Wie Janos Darvas dabei mit religiöser Überlieferung umgeht kann an dem Titelbeispiel deutlich werden. Er zitiert die These des französischen Hermeneuten Marc-Alain Ouaknin: „Das Judentum sei keine Religion des Buches, sondern eine Religion der Interpretation des Buches“. Auf Hebräisch heisst der ganze Satz, dem der Titel entnommen ist: „Bekol darchecha dae‘hu wehu jejascher orachtecha“. Darin kommen 2 verschiedene Worte für „Weg“ vor: „Derech“ en „Orach“. Wenn 2 Worte benutzt werden, muss es zwei unterschiedliche Aspekte geben – so die jüdische Textexegese! Etwa: ausgetretene, also alte, versus unbetretene, neue Wege – so die Deutung, an die Darvas seine weiteren Überlegungen anknüpft. Er nimmt die Überlieferung als „ein lebendiger Prozess“, bei dem das „Entgegennehmen“ vielleicht „das Wichtigere“ ist, und fügt sich selbst in diesen Prozess ein. („Auch das Wort „Kabbala“ bedeutet nichts anderes als ‚Überlieferung‘“, wie er schreibt.) Damit scheint er durchaus im Sinne der jüdischen Spiritualität vorzugehen. Weder ein fertiges Glaubensbekenntnis noch die blosse Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft gelten ihm als Religion im existenziellen Sinn. Diese Art der aktiven Empfänglichkeit verändert sowohl den Menschen wie auch die Erscheinungsformen des Inhalts, um den er sich bemüht. Die Essenz, die von „Abenteurern des Geistes“ (Religionsstifter und -Erneuerer) ausgegangen ist, muss immer wieder aktualisiert, „der Seele anverwandelt“ werden. Dazu empfehlt Janos Darvas eine innere Haltung, die quasi neuzeitlich-experimentell vorgeht, aber dabei den Rest des Urvertrauens einsetzt, den auch moderne Menschen oft noch in sich finden können, wenn sie es suchen. Mich überrascht es, dass er nicht nur mit Texten, sondern auch mit religiösen Praktiken, Riten, Gebeten etc. auf ähnliche Weise umgeht. Im freiwilligen (Mit)-Vollzug, im aufmerksamen Tun kann – wie er es bezeichnet – ein selbst erarbeiteter „devotionaler Überschuss“ – Hingabe und Vertrauen – geweckt  werden, die für „das Umgreifende“ (theistisch: „Ihn“ – Gott) öffnet.

Von der Philosophie zur Anthroposophie

Nicht nur der alte Glaube braucht heute spirituelle Belebung, auch das neuzeitliche Denken braucht es. Nach einer kleinen Phänomenologie des religiösen Menschen folgt eine entsprechende Skizze für den philosophierenden Menschen. Wie der Gefühls-/Willenspol heute Erkenntnislicht braucht, so muss das Denken mit Kraft durchsetzt werden, damit es bis an die Grenzen der Ratio geführt werden und dort Erfahrungen machen kann. So entdeckt der denkende Mensch den „kognitiven Überschuss“, durch den die Welt von innen und durch ihn selbst ergriffen werden kann. Stufenweise kann er sich dann von den Objekten und Inhalten freimachen und seine Aufmerksamkeit auf seine eigene kognitive Tätigkeit richten. Er lernt sich als „Zeuge“ einer Wirklichkeit kennen, die nicht mehr gegenständlich ist, und kann sein Bewusstsein für dieses – buchstäblich – Un-Vor-stellbare, „Unnennbare“ öffnen und aktiv wach halten. In dieser zusätzlichen Wachheit können der religiöse und der philosophische Weg konvergieren, wie es auch Gebet und Meditation tun können.

Der philosophische Weg stellt Janos Darvas auch als „Angelpunkt seriöser spiritueller Suche in der Anthroposophie“ dar. Als Textcorpus und als Komplex sozialer Einrichtungen ist sie heute ebenso Tradition wie anderes auch, nur jüngeren Datums! Als aktualisierender individueller Vollzug setzt sie bei der Stärkung und Erweiterung der bereits vorhandenen mentalen Fähigkeiten durch Übungen diverser Art an. Im Meditieren schliesslich wird die Kraft der freien Aufmerksamkeit auf geistige Inhalte gerichtet. Diese sind allerdings nur „provisorische Mittel“ dafür, dass „rein Übersinnliches ins Feld des Bewusstseins treten kann“. Dazu müssen sie als Inhalte auch wieder weggeschafft werden können. Um auf die Gefahr der Verführung durch esoterische Inhalte, besonders wenn sie im Gemüt Resonanz finden, hinzuweisen, zitiert Darvas den mittelalterlichen Kabbalisten Isaak von Akko mit folgenden Worten: „In der Meditation hängt alles von dem Gedanken ab. Wenn dein Gedanke an irgendetwas Geschaffenes gebunden ist – selbst an etwas Unsichtbares oder Spirituelles, das höher ist als jede irdische Kreatur – ist es, als würdest du dich auf Händen und Knien vor einem Götzen verbeugen.“ Falsche Frömmigkeit statt spirituelle Praxis, wenn man sich an Inhalten klammert!

Esoterik des Ich[iv]

Entsprechend verzichte auch ich hier auf ein ausführlicheres Referat der weiteren Inhalte dieser Publikation. Dafür möchte ich noch auf eine kompositionelle Eigenart des Buches hinweisen, die Wesentliches verrät, sich aber durch die Gliederung in 8 Kapiteln dem ersten Blick entzieht. Es gibt ein Vorwort, das man keinesfalls zu leicht nehmen soll! Es hätte als „Hier bin ich!“ überschrieben werden können, insofern Janos Darvas hierin sich selbst und seine Herangehensweise vorstellt. Es gehört unabdingbar zu dem Buch dazu, das mit dem „Ehje ascher Ehje“ – „Ich bin der ich bin“ oder auch:“…. sein werde“ endet: das Wort, das Moses aus dem brennenden Dornbusch vernimmt, als er fragt, in wessen Auftrag er das Volk aus der Versklavung führen soll. Moses selbst beantwortete den Ruf aus dem Dornbusch mit den Worten: „Hineni! – Hier bin ich! Ich bin bereit, o Herr!“. Worte, die nur von einem Einzelnen gesprochen werden können und die der mächtigste Ausdruck sind, den die hebräische Sprache für die Aufmerksamkeit und Bereitschaft kennt, eine Aufgabe mit viel Hingabe zu übernehmen. Diese Begegnung am Sinai war ein wichtiger Schritt in der Vorbereitung für die Fleischwerdung des Ich, die erst ermöglicht, dass ein Einzel-Ich sich zum Geistigen so stellt, wie Janos Darvas das in diesem Buch tut. Das besondere Individuelle und das Allgemein-Menschheitliche  machen zusammen das Geheimnis des Ich aus.

Von dem Vorwort und dem Schlusskapitel ausgehend bildet das vierte Kapitel die Mitte des Buchs. Und was finden wir dort? Den ewigen Bund („Brit olam“) zwischen Gott und den Menschen. Worauf beruht er? Auf die Wesensverwandtschaft des Menschen mit der Gottheit. Worin besteht diese? „Gott und Mensch sind Partner kraft der Ich-Natur ihres Wesens“.

Rückblickend tritt dadurch in den ersten beiden Kapiteln der vom Ich aus aktiv herzustellende Bewusstseinsruck in Religion, Philosophie und Anthroposophie in den Fokus. Und es ist folgerichtig, dass im dritten Kapitel die aktive Spiritualität des Judentums betont wird. „Wer kommt zum Licht? Der die Wahrheit tut“, sagt Jesus nach Johannes 3,21. Gottes Schöpfung ist nicht abgeschlossen. Der Mensch ist dazu berufen, sich schöpferisch in das Werk einzubringen. In alle Richtungen: ins Zwischenmenschliche, in die Natur und sogar in die kosmische Dimensionen der Gottheit selbst. Daraus wird vieles verständlich, was einem bei Martin Buber, Franz Rosenzweig, Nelly Sachs, Paul Celan und viele andere Persönlichkeiten, die beim spirituellem Judentum innere Nahrung suchten, begegnet.

In der zweiten Hälfte des Buches wird der Sefirot-Baum eingeführt und kommentiert, ein Herzstück jüdischer Theosophie, das mir bisher nie zugänglich wurde. In der Form eines Lebensbaums werden 10 Aspekte der Gottheit imaginativ-inspirativ dargestellt. Sowohl der unaussprechliche Gottesname JHWH wie das Antlitz des Menschen sind in diesem Kraftbild verborgen. Janos Darvas beleuchtet den Sefirot anthropozentrisch, wodurch er sofort transparent und als Ausgangspunkt für Meditation innerlich leicht rekonstruierbar wird: als 3 Triaden, die dem Denken bzw. Fühlen und Wollen entsprechen. Sie bestehen aus jeweils 2 Polaritäten, die in der Mitte einen Ausgleich durch die Ich-Tätigkeit finden können. Das „Ejeh“ („Ich bin“) steht an der Spitze des Stamms, der die Äste zusammenhält. Aufsteigend aus dem Willensbereich, der im Geist der Erde verankert ist, kann sich die Seele ihm entlang zur Erfahrung grenzenlosen Liebewaltens als Quelle allen Seins erheben – wenn es ihr vergönnt wird. Der Mensch kann nur an den Möglichkeitsbedingungen arbeiten. Diese bestehen aus der transformativen Selbsterziehung vom Ich aus: „Hier bin ich! Ich bin bereit!“

Das Buch ist geschrieben im Sinne dessen, worüber geschrieben wird. Eine reife Lebensfrucht eines weltoffenen, geistig unablässig lernenden Ich-Menschen. Die Lektüre des Buches ist selbst schon eine Seelenreise durch eine warme, lichtvolle Landschaft, in der man viele schöne Begegnungen machen kann.


[i]      Martin Bubers Antwort auf Gerschom Scholems Zweifel, ob seine (Bubers) Darstellung der chassidischen Lehre der historischen Realität gerecht wurde. Nach Albrecht Goes im Nachwort von Buber, Martin, Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre, Gütersloh 2001 (14. Aufl.), S. 64.

[ii]     Siehe Sonnenberg, Ralf (Hg.), Anthroposophie und Judentum. Perspektiven einer Beziehung, Ff/M 2009.

[iii]    Siehe Vandercruysse, Rudy, Wo bist du? Der Weg des Menschen und die innere Praxis der Selbstführung, Stuttgart 2021.

[iv]    Siehe auch Darvas, Janos, Gotteserfahrungen. Perspektiven der Einheit. Anthroposophie und der Dialog der Religionen, mit dem sehr erhellenden Aufsatz Gott spricht auch vom Menschen her. „Ich“ und „Nicht-ich“ im Buddhismus und Judentum, i.b. S. 61ff.

Schreibe einen Kommentar