Schöpfung aus dem Nichts: Die Kontraktion – Der Rückzug Gottes

Liebe Elisabeth, lieber Günter Röschert,

zu Eurer Einladung, das Thema „Schöpfung aus dem Nichts“ aus der jüdischen Tradition aufzubereiten, vorab – verzeiht – vielleicht ein paar befremdliche Worte.

Vor vielen Jahren las ich den Ulenspiegel von Charles de Coster. De Coster versetzt die Geschichten um Ulenspiegel in das 16. Jahrhundert zur Zeit der spanischen Besetzung der Niederlande. Ulenspiegel musste erleben, dass sein Vater Claes durch die Inquisition öffentlich verbrannt wurde. In der Nacht darauf schlich sich Ulenspiegel zum Verbrennungspfahl und kratzte Asche aus der Herzgegend seines Vaters. Diese tat er in einen Beutel, den er seitdem immer an seinem Herzen trug. Ulenspiegel schloss sich den Geusen an und kämpfte für die Unabhängigkeit der Niederlande.

Während dieser Zeit sagte er sich und zu anderen Menschen:

Claesens Asche pocht auf meiner Brust.

Was den Inhalt des Romans angeht, habe ich fast alles vergessen nur dieser Satz hat sich mir eingeprägt.

Für mich selber, für meinen Lebensweg, habe ich diesen Satz unter Abänderung eines Wortes von Paul Celan aus der Todesfuge als einen Teil meiner Raison detre gewählt:

Schulamiths Asche pocht auf meiner Brust.

Und dies nicht nur wegen der Shoah, sondern auch wegen des geringen Interesses an jüdischer Religion, an jüdischer Spiritualität, an jüdischer Geistesforschung auch in anthroposophischen Kreisen.

Betroffenheit und Schmerz erfüllt mich jedes Mal, wenn ich die Rezension von Rudolf Steiner zu einem Werk Hamerlings aus dem Jahr 1888 lese. Ich zitiere einige Sätze wörtlich:

Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und daß es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise. …

Rudolf Steiner, Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884-1902; GA 32, S. 156

Ausgeführt hat Rudolf Steiner nicht, was er unter dem „Geist des Judentums“, der „jüdischen Denkweise“ versteht. Zu ergänzen wäre noch, dass Rudolf Steiner sich nie von diesem Text distanziert hat, in seinem Lebensgang schrieb er wenige Jahre vor seinem Tod, dass er wegen dieses Textes einige Schwierigkeiten bekam, er sei doch aber nur von Tatsachen ausgegangen. Lesenswert hierzu ist der Aufsatz von Ralf Sonnenberg in dem Buch: Anthroposophie und Judentum. Sonnenberg vermutet, dass Steiner in dem damaligen Judentum den Hauptträger materialistischer Weltanschauung sah. Steiners Äußerungen zum Judentum hatten leider auf das anthroposophische Leben Auswirkungen:

So schrieb Friedrich Rittelmeyer in seinem 1933 erschienenen Buch Rudolf Steiner als Führer zu neuem Christentum:

„Im Judenvolk wurde endlich, durch den besonderen Ernst seiner Ehegesetze und anderes, die menschliche Leiblichkeit so gesund und stark herangebildet, dass sie, unter Vermählung mit anderem, arischem Volkstum, dem Menschheitsheiland dienen konnte. … Nun gehört es zu den aufschlussreichsten Beobachtungen, wie wir mitten unter uns ein Volk in seine Entartung hineingehen sehen. … Und was als Leibesspannkraft dem jüdischen Volk anerzogen ist, lebt sich heute weithin im Materialismus aus …

Friedrich Rittelmeyer Rudolf Steiner als Führer zu neuem Christentum, 1933. Verlag der Christengemeinschaft

Insbesondere vom Christentum hat er (Rudolf Steiner) gesagt, dass die Stunde gekommen ist, wo es sich freizumachen hat von dem israelitischen Erbeinschlag, den es von seinen Ursprüngen her in sich trägt“.

Schulamiths Asche pocht auf meiner Brust.

Bevor ich mich den eigentlichen Themen der Selbsteinschränkung Gottes und der Schöpfung aus dern Nichts zuwende, sind einige einführende Worte notwendig:

Die jüdische Lektüre kennt keinen direkten Zugang zum Text. Anstelle des direkten Zugangs auf den Text, den die europäische christliche Moderne mit ihrer protestantischen Doktrin der Sola Scriptura auszeichnet, kennt die jüdische Tradition einen unendlichen Umweg so die Judaistin Almut Bruckstein in ihrem Buch: Die Maske des Moses. Sie führt weiter aus, die jüdische Hermeneutik spiele mit erinnerten, vor Früheren ins Spätere hineingerufenen, narrativen Figuren. Laut jüdischer Tradition sei die Thora, die Lehre selbst ein Spiel (hebr. shaashua), das von Gott und den Menschen mit gleichen Regeln gespielt wird. Die Spielregeln seien die hermeneutischen Figuren der Traditionsvermittlung selbst.

Was die überlieferten Texte angeht, sind besonders die Begriffe Mischna (d.h. Wiederholung) und Midrasch (vom Wortstamm „Suchen“) wichtig. Die Mischna ist die Niederschrift der mündlichen Thora, einer Sammlung religionsgesetzlicher Erörterungen. Nach Überlieferung wurde Moses die mündliche Thora ebenso auf dem Sinai übergeben wie die eigentliche schriftliche Thora.

Die Midraschim sind Sammlungen von Erörterungen, Gespräche, Erzählungen der Rabbinen zu Texten der Schrift. Texte der hebräischen Bibel, aber auch der Evangelien, sind häufig kaum oder gar nicht zu verstehen, wenn nicht wenigstens ein Basiswissen der Überlieferungen des jüdischen Volkes vorhanden ist.

Zwei Beispiele mögen genügen: In Matthäus 16 Vers 4 steht:

„Eine gottlose … Generation bittet um ein Zeichen? Ihr wird mit Sicherheit kein Zeichen gegeben werden außer dem Zeichen des Jona“.

Matth. 16.4

Damit ließ er die Schriftgelehrten stehen, so Jesus von Nazareth. Was bedeutet das Zeichen des Jona? Hier reicht es nicht, das Buch Jona nur gelesen zu haben.

Im 21. Kapitel Vers 11 des Johannesevangeliums werden nach dem nächtlichen Fischzug 153 Fische gezählt. Hat diese Zahl eine Bedeutung? Könnten es weniger oder mehr Fische sein? Die Antwort ist eindeutig nein. Das Geheimnis der Zahl 153 offenbart sich erst, wenn bestimmte hebräische Buchstaben in ihrer Bedeutung als Zahlen berücksichtigt werden.

Hierzu möchte ich den evangelischen Theologen Uwe Markstahler nach seinem Buch Das Neue Testament im Licht der jüdischen Tradition, zitieren:

„Hier gilt der Satz des Juden Jeschua, der zu der Samariterin sagte (Joh. 4,22): ‚Ihr betet an, was ihr nicht kennt. Wir beten an, was wir kennen, denn das Heil ist aus den Juden“, was man; so.Markstahler, auch interpretieren kann: „Das Verstehen des impliziten Sinns der heiligen Schriften bedarf der jüdischen Tradition“; mit anderen Worten: „ohne das Licht der Jüdischen Tradition bleibt die Ekklesia blind“

Uwe Markstrahler, Das Neue Testament im Lichte der jüdischen Tradition. 2019. S. 47 ISBN 978-3-643-14356-3

Ich erweitere: bleiben alle Kirchen blind!

Zum Verständnis: Die Samaritaner lehnen die Überlieferungen ab, für sie galt und gilt noch immer ausschließlich die schriftliche Thora.

In diesem Sinne nehme ich eure Einladung gerne an!

Winfried Karitter

Die Kontraktion, die Selbsteinschränkung, der Zimzum Gottes

Zu diesem Thema gibt die Bibel wenig bis keine Hinweise, in der Tradition war lange Zeit nur die Selbstzusammenziehung in einem oder an einem Ort Gottes bekannt. So wurde in Anknüpfung an Ex. 25,22: Er, Gott werde sich auf die Bundeslade herabbegeben, kommentiert, Gott werde sich in dem kleinen Zwischenraum zusammenziehen, den die beiden Cherubim mit ihren ausgebreiteten Flügeln bilden.

In einem Kommentar wörtlich: „Ich werde hinabsteigen und meine Anwesenheit zusammenziehen“. . Diese Auffassung vom Zusammenziehen wurde durch das Wirken und die Lehre von Isaak Luria (1534-1572) von Grund auf erweitert bzw. völlig neu aufgestellt. Isaak Luria wurde in Jerusalern geboren, zog 1569 nach Safed in Galiläa (spricht sich Svad aus) und lehrte dort bis zu seinem Tode. Er hinterließ fast nichts Schriftliches, seine Lehre wurde von seinen Schülern aufgezeichnet.

Hier ist besonders Chajim Vital zu nennen, auf dessen Aufzeichnungen ich mich für die weiteren Ausführungen beziehe.

Ausgangspunkt ist die Frage, wie kam es zur Schöpfung? Wie kann eine Trennung und Ausdifferenzierung stattfinden, wo doch Gott in seiner Vollkommenheit das absolute Sein ist, wo Gott ist, kann nichts anderes sein. Gott ist im Unendlichen dem „Ejn sof“ .

Hier greift die Lehre Lurias: Das Zusammenziehen, der Zimzum geschieht noch im Ejn Sof. Der Zimzum steht am Ursprung, so Christoph Schulte in seinem Buch: Zimzum, Gott und Weltursprung. „Weiter bei Christoph Schulte:

„Gott zieht sich durch den Zimzum von einem Ort weg und räumt so in seiner eigenen Mitte einen Ort frei, der buchstäblich gottverlassen ist und sich dennoch inmitten Gottes befindet. In diesen Ort und Raum hinein kann Gott dann die Welt schaffen.“

Christoph Schulte: Zimzum, Gott und Weltursprung, 2014 ISBN 978-3-633-54263-5

Hierzu noch Zitate aus dem Buch Baum des Lebens von Chajim Vital:

„Wisse, dass es, bevor die Emanationen emaniert wurden und die geschaffenen Dinge geschaffen wurden, ein einfaches höchstes Licht gab, dass alles Vorfindliche erfüllte. Es gab keinen freien Platz, etwa im Sinn von leerer Luft oder Raum. Es gab nicht so etwas wie Anfang und Ende … Und siehe, da zög das Unendliche sich selbst zurück in den Mittelpunkt in sich. So dass nun von diesem Mittelpunkt herum ein unbesetzter Ort übrig blieb“.

Chajim Vital, Baum des Lebens

Vital beschreibt den Kreis: Zwischen Punkt und Umkreis ist leerer Raum. In der heutigen Physik wird zum Teil spekulativ angenommen, dass alle Materie ihren Ursprung in einem Punkt hat, es ist deshalb keineswegs ausgemacht, dass sich Naturwissenschaft (Urknalltheorie, Evolution) und (hier jüdische) Geisteswissenschaft einander ausschließßen müssen.

Lurias Lehre erreichte in kurzer Zeit über Osteuropa den westeuropäischen Raum. Theologen, Philosophen setzten sich mit dem Phänomen des Zimzum auseinander. Beispielhaft seien erwähnt: der christliche Kabbalist Christian Knorr von Rosenroth, der Pietist Friedrich Oetinger, sodann Hegel und insbesondere Schelling. Sogar der Antisemit Clemens Brentano war angeregt und veröffentlichte in dem Zyklus Romanzen vom Rosenkranz u.a. folgende Zeilen:

Wie dem Lichte ist entsprungen,
Sich rückziehend durch das Wollen,
Dunkler Raum im Mittelpunkte,
Worin ward die Welt geboren.

Clemens Brentano, Romanze VIII: Kosmes Buße II

Soweit die Beispiele. Die Idee des Zimzum fordert geradezu das Denken über weitere Problemstellungen heraus:

So berührt die Theorie des Zimzum die Fragen um die Freiheit des Menschen sowie der Theodizee. Nehmen wir den Zimzum an, folgt daraus zwangsläufig die Annahme der Freiheit des Menschen im Willen. Gehen wir von einem Ort aus, der nicht von der Allmacht Gottes und seines absoluten Seins erfüllt ist, muss der Mensch, dem von Gott in diesem Raum die göttliche Geistseele also ein Bereich Gottes selber nämlich die Neschama eingeblasen wurde, in seiner Gottähnlichkeit freien Willens sein. Wir können deshalb in die Entwicklung der Erde und des Menschen sowohl heilend als auch zerstörend eingreifen. Dieses liegt in unserer Verantwortung und nicht in der Verantwortung Gottes.

Hierzu prägte Isaak Luria den Begriff des Tikkun Olam. Wörtlich: Die Welt verbessern, reparieren. Der amerikanische Rabbi Elliot Dorff schrieb dazu folgenden Satz: .

„Selbst Juden, die nicht an Gott glauben, folgen dem Tikkun Olam, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen. Das ist die Essenz davon, jüdisch zu sein.“

Elliot Dorff

Eine Shoah (gleich welcher Art ) liegt in unserer Verantwortung. Rechten wir nicht mit Gott.

Schöpfung aus dem Nichts

Rabbi Lawrence Kushner schreibt hierzu einleitend in seinem Buch „Jüdische Mystik“

„Gottes Allgegenwart lässt Mystiker aller Traditionen Bilder des Meeres benutzen. Sowie ein Wassertropfen im Meer aufgeht, sind wir Wellen im Meer Gottes. Und wie Fische, die das Meer, in dem sie leben, nicht zu verstehen vermögen, müssen auch wir unsere sprachlichen und imaginativen Möglichkeiten strapazieren, um das göttliche All zu beschreiben. Das Wort, das jüdische Mystiker am häufigsten zur Beschreibung Gottes benutzen ist ‚Nichts‘“

Lawrence Kushner: Jüdische Mystik, ISBN: 9783778772126

Auch für das Wort „Nichts“ gibt es keinen direkten Zugang zu der Schrift.

Die hebräische Sprache, insbesondere die vokalfreie Schrift ermöglichen es, zu oft überraschenden Ergebnissen zu kommen: Psalm 121,1 wird überwiegend übersetzt: „Ich erhebe meine Augen zu den Bergen. Von wo kommt mir Hilfe?“ „Von wo“ ist im Hebräischen Me Ajin, kann aber auch als „aus dem Nichts wird meine Hilfe kommen“ bedeuten. Dieses Wort Ajin „Nichts“ (Aleph – Jod – Nun; 1-10-50) hat im Jüdischen eine geradezu kosmische „Bedeutung. Nichts oder Nichtheit bedeutet aber nicht “„gornischt‘“, wie Kushner unter Gebrauch eines jiddischen Wortes betont. Gemeint ist das Fehlen jeder „Dingheit“ somit das Fehlen von Definitionen oder Grenzen.

Im jüdischen Geistesleben ist Dow Bär von Mesritsch (um 1710-1772) eine anerkannte Größe. Er wird auch der „Große Maggid“ genannt. Maggid bedeutet Prediger oder auch Erzähler. Der Judaist Grözinger nennt ihn den „Grossen Nichter“. u

Ein Auszug aus einem seiner Werke verdeutlicht dies:

„Und sie sehnen sich danach, mit dem Heiligen eins zu werden, sich dem Nichts (Ajin) gleich zu machen. Ihnen ist klar, dass sie nichts wären, ebenso wie sie es vor der Schöpfung waren, würde die Macht des Schöpfers sie nicht in jedem Augenblick erschaffen und erhalten. Denn fürwahr, es gibt in der Welt nichts außer Gott.

Das ist aber genau das Gegenteil dessen, was alle anderen in der Welt denken. Sie glauben, wenn sie nicht mit ihrem Schöpfer verschmelzen, sondern an den Dingen und ‚Angelegenheiten dieser Welt haften würden, würde diese in ihren eigenen Augen zu ‚Etwas‘.

Sie halten sich für wichtig. Doch wie kann jemand, der am nächsten Morgen vielleicht nicht mehr aufwacht, wichtig sein? Sie waren in der einen Nacht und vergingen in der nächsten (Jona 4,10). In den Psalmen lesen wir: Ihre Tage vergehen wie ein Schatten (144,4).

Obwohl sie leben, tun sie nichts weiter als Eitelkeit zur Schau zu stellen. Wenn sie meinen, sie seien etwas, sind sie tatsächlich nichts. Haften sie hingegen aufgrund ihrer Verbundenheit mit dem Schöpfer mit ihrer gesamten körperlichen und geistigen Kraft an Gott und glauben, sie seien nichts, sind sie in Wahrheit sehr groß. Sie gleichen dem Ast eines Baumes, dem klar geworden ist, dass er eine organische Einheit mit seiner Wurzel bildet.“

Karl Erich Grötzinger

Beim Lesen dieser Worte erlebe ich das Christuswort: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben‘. Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass Dov Bär dieses Christuswort nicht kannte. Hier haben wir Kernworte jüdischer und christlicher Spiritualität.

Ajin das Nichts hat, worauf die rabbinische Tradition hinweist, dieselben Buchstaben wie das hebräische Wort für Ich Ani: Aleph-Nun-Jod. Friedrich Weinreb weist darauf hin, dass auch im Wort „Nichts“ das Ich verborgen ist.

Hierzu noch einen chassidischen Kommentar zur Offenbarung am Sinai:

In Exodus 20,15 steht, dass das ganze Volk die Stimmen, die Feuerflammen, den Schofarton sah. Stimmen und Töne kann man natürlich nicht sehen, jedoch betont der Kommentator, dass jeder einzelne der Kinder Israels seine Lebenswurzel und den göttlichen Odem, den jeder in sich hat, von Auge zu Auge sah …

Was die Menschen am Sinai also „sahen“, war ihr eigenes Selbst, der göttliche Kern ihrer Seele, so Rabbi Gabriel Strenger in seinern Buch Jüdische Spiritualität, S. 149.

Zum „Nichts“ noch ein wichtiger Absatz aus dem Buch von Franz Rosenzweig Der Stern der Erlösung, erschienen 1921: 2.

„Gott ist uns zunächst ein Nichts, sein Nichts. Vom Nichts zum Etwas, oder sagen wir schärfer: vom Nichts zu dem, was nicht Nichts ist … Wohlgemerkt, wir sprechen nicht wie die ‚frühere Philosophie, die nur das All als ihren Gegenstand anerkannte, von einem Nichts überhaupt. Wir kennen kein eines und allgemeines Nichts, weil wir uns der Voraussetzung des einen und allgemeinen All entschlagen haben.“

Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, S. 43

Vor dem Hintergrund der jüdischen Geisteswissenschaft werden auch die Worte Paul Celans verständlich:

„Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, niemand bespricht unsern Staub. Niemand.“

Paul Celan: Psalm

Niemand ist nicht Keiner!

Zum Schluss noch einige Worte zu dem ersten Wort der Bibel „Bereschit“ 1. Mose 1.1 und den beiden ersten Worten des Johannesprologs „En Arche“: Beides wird allgemein mit „Im Anfang“ übersetzt.

Uwe Markstahler setzt die Bibelstellen zueinander in Beziehung und kommt zu der Auffassung, dass Johannes im Prolog Signale setzte, die den Prolog mit der ersten Schöpfungsgeschichte verbinden.

Ich versuche einige dieser Signale in Kurzfassung darzulegen:

Wird „Bereschit“ mit „Im Anfang“ übersetzt, greift das zu kurz. Die jüdische Überlieferung betont, dass „Bereschit“ auch „Mit. Reschit“ gelesen werden kann: Mit Reschit erschuf Gott. Was aber ist Reschit? Dieses Wort hat als Stamm den Begriff „Haupt“ (hebr. Rosch). Es ist also eine Hauptsache, etwas sehr Wichtiges. In dem kabbalistischen Sephirotbaum ist die zweite Sephira „Chochma‘, Weisheit. Für Chochma steht der Buchstabe „Jod“, also das kleinste Zeichen, mehr Punkt als Fläche. Chochma wird in dem System der Sephirot häufig auch „Wille“ genannt.

Die Begriffe Wille, das „Nichts“ (Punkt), die Hauptsache, sind also wichtige Säulen der Schöpfung, denen man sich nur kontemplativ in Ehrfurcht nähern kann. Wird gelesen: in der Hauptsache erschuf Gott Himmel und Erde, ergibt sich deutlich eine Dualität. Jedes hat ein Gegenüber: Himmel Erde; Oben Unten, Mann Frau, Gut Böse. Dieses Duale muss sich austauschen, es muss eine Beziehung entstehen, nur dann ist die Geburt eines Dritten möglich! So steht Chochma der Sephira Binah gegenüber. Binah kann mit Einsicht, unterscheidender Verstand oder schlicht mit Intellekt übersetzt werden. Erst wenn sich die (himmlische) Weisheit mit dem irdischen Intellekt verbindet, kann ein Drittes (Daath) entstehen. Daath ist Erkenntnis. Unterschätzen wir daher nicht das irdische Werkzeug des Intellektes.

„Im Anfang war das Wort“ …

Uwe Markstahler betont, dass im allerersten Wort „Im“ des Prologes des Johannesevangeliums sich aufgrund seiner nach Innen weisenden Ortsangabe etwas Innerstes oder Tiefstes, ein Urpunkt oder ein Quellort andeutet, der gleichsam ans „Jenseits des Seins“ grenzt und durch den etwas keimhaft zur Entfaltung kommt („jenseits des Seins“ ist ein Zitat von Emmanuel Levinas). Durch das „Im“ suggeriert sich eine den Anfang vertiefende und rücklaufende Denkbewegung, man nähert sich einem Grenzwert, dessen Wert gleichsam „Nichts“ ist.

Der Rabbiner Benno Jacob schreibt hierzu in seinem Buch Genesis (Stuttgart 2000) folgendes:

„Eine solche uranfängliche Schöpfung aus dem Nichts durch Gott, im Gegensatz zu Entwicklung oder Herstellung oder aus Zeugung durch ein bereits Vorhandenes, gedacht, gelehrt und in lapidarer Kürze mit ihrem ersten Satze an die Spitze gesetzt zu haben, ist die erste Großtat der Thora(..). Alle anderen Kosmogonien lassen die Welt aus einem von Ewigkeit her daseienden Urstoff entstehen oder gebildet werden, und keine andere Religion oder Philosophie hat diesen letzten Schritt gewagt.“

Benno Jacob: Genesis. Stuttgart 2000, ISBN 978-3-7668-3514-7

Mit einem Gedicht von Gershom Scholem möchte ich schließen:

Schier vollendet bis zum Dache Ist der große Weltbetrug. Gib denn, Gott, dass der erwache, den dein Nichts durchschlug. So allein strahlt Offenbarung In die Zeit, die dich verwarf. Nur dein Nichts ist die Erfahrung, die sie von dir haben darf.

Gershom Scholem Gedichte Zitat

Winfried Karitter

PS:

Nach Abfassung des Essays wurde ich auf das Buch von Dariel Matt: Jenseits von Nichts und Leere, Crotona Verlag, 2017 aufmerksam. Matt lehrte in Berkeley jüdische Theologie, er gilt als einer der besten Kenner abendländischer mystischer Traditionen. Besonderes Anliegen ist ihm, Beziehungen zwischen „Wissenschaft“ und Mystik zu untersuchen und aufzuzeigen.

In dem oben genannten Buch werden verschiedene Sichtweisen zu dem Begriff „Nichts“ im Jüdischen, im Christentum und im Buddhismus dargestellt. Ich beschränke mich auf die christliche Geistesforschung und hier besonders auf Meister Eckhart. Wenn ich in meinem Essay Dow Bär von Mesritsch als den großen Nichter im Jüdischen genannt habe, gilt dies im Christlichen für Meister Eckhart. Folgende Zitate aus seinen Predigten belegen dies:

„Alle Kreaturen sind ein reines Nichts. Ich sage nicht, dass sie geringwertig oder überhaupt etwas seien. Sie sind ein reines Nichts. Was kein Sein hat, das ist nichts. Alle Kreaturen haben kein Sein, denn ihr Sein hängt an der Gegenwart Gottes. Kehrte sich Gott nur einen Augenblick von allen Kreaturen ab, so würden sie zunichte. Könntest du dich selbst vernichten für einen Augenblick, ja, ich sage, selbst für kürzer als einen Augenblick, so wäre dir alles eigen, was es in sich selbst ist. Solange du auf dich selber noch irgendwie achtest, oder auf irgendein Ding, so weißt du wenig, was Gott ist (…). Da es denn Gottes Natur ist, dass er niemandem gleich ist, so müssen wir notgedrungen dahin kommen, dass wir nichts sind, auf dass wir in dasselbe Sein versetzt werden können, das er selbst ist. Wenn ich dahin komme, dass ich mich in nichts einbilde und nichts in mich einbilde, so kann ich in das bloße Sein Gottes versetzt werden. Der Seelenfunken will wissen, woher dieses Sein kommt, es will in den einfältigen Grund, in die stille Wüste, in die nie Unterschiedenheit hineinlugte. weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist. Schaut die Seele Gott so, wie er Gott oder wie er Dreiheit ist, so ist etwas Unvollkommenes an ihr. Wenn aber alle Bilder der Seele abgeschieden werden und sie nur das eine schaut, dann findet das rein Sein der Seele, erleidend und ruhend in sich selbst, das reine, formenfreie Sein göttlicher Einheit, das da ein überseiendes Sein ist.“

Meister Eckhart Predigt 4 zum 26. Artikel

Wir haben keine Hinweise, dass Eckart Kenntnisse über die Kabbala hatte. Parallelen sind offensichtlich. Matt geht von einem gemeinsamen neuplatonischen Erbe aus.

Winfried Karitter, geboren 2. Februar 1943 in Berlin, ab 1963 Studium der politischen Wissenschaft, sodann der Rechte in Berlin und Würzburg. Im Mai 1972 Eintritt in. den Justizdienst von Baden-Württemberg und bis 2008 vorwiegend tätig als Strafrichter am Landgericht Ravensburg große Strafkammer sowie Jugendkammer. 1972 zusammen mit seiner Frau Mitbegründung der „Heilstätte Sieben Zwerge“ und 1989 der Deutsch-Israelischen Juristengemeinschaft in Jerusalem.

Bücher zum Thema:

Christoph Schulte, Zimzum Gott und Weltursprung, Berlin 2014 a Uwe Markstahler, Der Prolog im Licht der jüdischen Tradition, Berlin 2010 . i

Friedrich Weinreb, Wege zum Wort, von der Verborgenheit der Schrift, Weiler im Allgäu, 1992

Lawrence Kushner, Jüdische Mystik, Basistexte aus drei Jahrtausenden, München 2003 . . Gershom Scholem nach dem Aufsatz Schöpfung aus dem Nichts und Selbstverschränkung Gottes in: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Edition Suhrkamp 414, 1 Auflage 1970

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. János Darvas

    Zu Rudolf Steiners Sefirot-Zeichnung aus GA 353
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    Die Zeichnung Rudolf Steiners weicht in mehrerer Hinsicht von traditionellen Darstellungen des Sefirotbaums ab.
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    In der klassischen Kabala sind Rechts und Links so disponiert, dass sich die rechte Seite des Baums an der rechten Seite des Betrachters, die linke an der linken Seite des Betrachters befindet. Bei Rudolf Steiner befindet sich die rechte Seite links von ihm, die linke rechts. Die Figur steht ihm gegenüber, sieht ihn gleichsam an. In der Kabala ist es so, dass die Struktur in die gleiche Richtung orientiert ist wie der Betrachter, er sieht sie „von hinten“ („Wenn meine Herrlichkeit vorübergeht … wirst du mich von hinten sehen; aber mein Angesicht soll nicht gesehen werden.“ Exodus 33,22).
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    Rudolf Steiner platziert zwei Sefirot, die in die Mitte gehören, an der linken Seite der Figur (vom Betrachter aus gesehen rechts): Tiferet (Schönheit) und Jesod (Fundament). Tiferet ist aber stets die zentrale Sefira überhaupt, das Herz des „Lebensbaums“, wo alle Polaritäten ausgeglichen werden. Jesod, befindet sich mittig gleich darunter und bildet den Durchgang zur untersten Sefira Malchut.
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    Rudolf Steiner charakterisiert die unterste Sefira – Malchut – als „Feld“. Meist wird sie mit „Reich, Königtum“ wiedergegeben. Sie als „Feld“ zu bezeichnen ist ungewöhnlich, aber interessant – ich denke an die mantrischen Worte „Vernimm des Denkens Feld …“ usw. in den Klassenstunden. Sicher ist, dass die Sefirot mit verschiedenen Vokabeln zum Ausdruck gebracht werden können. Tiferet zum Beispiel wird in der einschlägigen Literatur als Herrlichkeit, als Schönheit, manchmal auch als Harmonie gedeutet. Hod als Mitgefühl, Netzach als Überwindung zu bezeichnen, wie Rudolf Steiner es tut, ist allerdings ungewöhnlich, wie auch Vieles in dem Vortrag, zu dem diese Zeichnung gehört (Dornach 10.Mai 1924 in GA 253).
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    In dem Vortragstext ist etwa die Sefira Malchut als physische Qualität charakterisiert. „…die zehnte Kraft, Malkuth, ist eben in die Erde hineinversenkt. Also im Grunde genommen ist das hier der physische Mensch.“ (S.353). In der theosophischen Kabala wird Malchut mit der Schechina gleichgesetzt. Das ist die Gegenwart Gottes in der Welt, nicht deren physische Materialität.
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    Es wäre zu prüfen, welche Quellen Rudolf Steiner benutzt hat. Da ist zum Beispiel von einer Kontroverse des Philosophen Moses Maimonides mit Kabalisten die Rede, bei der es um die Kombination von drei Sefirot geht. Weder in den Werken des Maimonides, noch in dem, was über ihn historisch überliefert ist, gibt es einen Hinweis auf eine Beziehung zur Kabala bei ihm..
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    Eine traditionelle Darstellung mit Zuordnung des hebräischen Alphabets zu den Verbindungen zwischen den Sefirot befindet sich auf der nächsten Seite.
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    János Darvas

  2. autor andreas heertsch

    Zumzum
     
    Sie weisen schon auf „n-ich-ts“ hin. Offenbar geht die Geistesgeschichte jüdisch, wie auch christlich, hier gemeinsame Wege: In der christlichen Theologie bildet sich schon seit Plato die negative Theologie aus: Man kann nur sagen, was Gott nicht ist.
     
    Das ist geistewissenschaftlich auch deshalb interessant, weil an diesen Fragen der Verstand merkt, dass er an seine Grenzen kommt.
     
    Ich möchte es mal scharf – und vielleicht etwas überzeichnet – formulieren: Gott kann man nicht begegnen. Wer trotzdem von solchen „Begegnungen“ erzählt, der projiziert seine Offenbarung in eine gegenständlich erlebte Verstandeswelt. Für das Gegenstandsbewusstsein gilt: „ich hier – Du (oder es) dort“ Alles Ungegenständliche wird „dagegen“ ein Nichts. Und doch ist auch in dieser Verstandeswelt noch eine Ahnung, dass es etwas ausserhalb dieser Welt geben muss. So behilft sie sich mit dem „Nichts“ und verhandelt entsprechend, wie dieses Nichts „hinter“ all ihren Gegenständen urständet.
     
    In der 18. Klassenstunde geht Rudolf Steiner auf dieses n-ich-ts (implizit) ein, indem er seine Zuhörer in die Welt der Intuition mitnimmt: Alles, was nicht „ich“ ist, ist „nichts“. Er weist auf diese Weise recht radikal auf die intuitive Verfassung, die eben keine Gegenstände kennt. Es gibt „hier“ kein „ich hier – du dort“ mehr. Es gibt nur noch „wir“: Wesensinnigkeit.
     
    Wer diese (empathische und ideovoluntarische) Haltung nicht kennt, für den bleibt das alles nicht fassbar, eben „nichts“.
     
    Mir aber fehlen die Worte, mit denen ich mein Innesein charakterisieren könnte. Ich kann nur davon erzählen und weiss, dass jede Erzählung Missverständnisse provoziert. Da ist dann die paradoxe Formulierung (n-ich-ts) immerhin geeignet, den Verstand am (Miss-)Verstehen zu hindern. Ich aber entdecke, dass die Bitte „Nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe“ nicht etwa das Aufgeben des eigenen Willens bedeutet, sondern im Gegenteil die intensive Anstrengung des eigenen Willens erfordert: den anderen Willen im eigenen wirksam werden zu lassen. Erste Anflüge eines solchen Wollens kann man ja bereits im konzentrierten Nachdenken kennen lernen: Ich sorge dafür, dass ES denkt ….

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