Wissenschaft des alten und des neuen Testamentes

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  • Beitrag zuletzt geändert am:17. Mai 2024
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Hier geht es mir nicht um Theologie als Wissenschaft sondern um Stile der Geistesforschung.

Reduktionismus

Georg Maier unterschied zwei Typen von Wissenschaft: die alttestamentarische Haltung1 ist: Das Besondere wird versucht auf das Allgemeine zurückzuführen. Diese Haltung gipfelt heute in TOE (Theorie of everything) und ist in den meisten Wissenschaftsdisziplinen das Grundmodell. Selbst der Goetheanismus (im engeren Sinne verstanden) will die einzelnen Phänomene auf Urphänomene zurückführen. Damit ist das Augenmerk auf allgemeine und grundlegende Gesetze gerichtet. Diese Sicht hat die abendländische Naturwissenschaft und ihre Anwendung in der Technik erfolgreich gemacht.

Wertschätzung des Besonderen

In dieser reduktionistischen Haltung gewinnt man Einsicht in allgemeine Gültigkeiten. Sie versucht die Bilde-Prinzipien zu beschreiben, die den verschiedenen Erscheinungen zugrunde liegen. Sie wird aber so keinen Zugang gewinnen zum einzelnen Wesen. Hier empfiehlt Georg Maier eine Wissenschaft des Neuen Testamentes: Wie wird Wesenserkenntnis möglich?

Dafür muss ich mich bereit machen, mich auf eine unscheinbare Situation bejaend einlassen zu können. Um deutlich zu machen, was ich meine möchte eine kleine Episode schildern, die den Beginn einer über 15 Jahre dauernden Bekanntschaft mit einem Zwerg einleitete:

Als ich vor einigen Jahren im Grossen Saal des Goetheanum in einem Mysteriendrama Rudolf Steiners sass, begann, bevor sich der Vorhang öffnete, in einiger Entfernung von mir ein Wecker elektronisch erzeugte Pieptöne von sich zu geben. Erschrockenes Rascheln der Besitzerin, bis das Piepen verstummte. Die Szene begann. Nach einigen Minuten erscholl allerdings das gleiche Piepen erneut. Wiederholtes Rascheln, diesmal mit mehr Erfolg: Das Piepen war endgültig verstummt. Um mich eine Atmosphäre von ärgerlichem Schweigen: Man sah möglichst konzentriert auf die Bühne und tat so, als ob nichts gewesen sei.

Märchenhaft
Beim zweiten Piepen hatte ich jedoch den mich überraschenden Eindruck: «Warum hört mich denn keiner?» Ich liess mich also auf ein Gespräch ein, indem ich meinen Arm bereit hielt, als kleine Bank zu dienen, und prompt setzte sich ein Männlein darauf und sah mich mit grossen Augen an. Ich begann ihm zu erklären: «Das ist jetzt gar nicht der richtige Moment, in dem du rufst!» Verdutzt hörte der Kleine zu und – seine Aufmerksamkeit ausnutzend – erklärte ich ihm: «Wir Menschen
sehen hier ein wichtiges Schauspiel; da geht es darum, wie Menschen lernen können, dass sie deine Welt auch sehen.» Das Männlein zwinkerte dankbar mit den Augen und schwupp, war es von meinem Arm verschwunden.

Wissenschaftlich
Diese kleine Geschichte läuft Gefahr, beim Leser einen ganz falschen Eindruck zu erwecken. Sie ist nur eine imaginative Erzählung. Nicht, dass es das «Männlein» nicht gäbe, auch «sass» es natürlich auf meinem Arm, aber es hatte kein Gewicht und war ganz und gar unsichtbar. Für sonnige Gemüter ist obige Beschreibung wohl ganz hinreichend, aber für den wissenschaftlichen Verstand sehr unklar, weil nicht deutlich ist, welchen Realitätsgrad das «Männlein» eigentlich hat. Deshalb sei die
ganze Situation nochmals bewusstseinsmässig analysiert.

Nach dem zweiten Piepen hatte ich also einen Eindruck, den ich, in Worte gefasst, so wiedergeben würde: «Hallo! Warum hört mich keiner.» Aber die Worte sind nur der sprachliche Ausdruck, um mich dem Leser mitzuteilen, es waren keine Worte zu hören. Entsprechend könnte ich die Stimmung auch ganz anders, etwa in eine auf sich aufmerksam machende Geste übertragen: jemand schwenkt ein rotes Fähnlein. Der Eindruck selbst war für mich überraschend, ich war eigentlich auf die beginnende Szene konzentriert, anschliessend auch bereit, in das allgemeine «Unverschämtheit, einen Wecker piepen zu lassen» meiner Umgebung einzustimmen. Ich habe dann mir aber versuchsweise vorgestellt, es sässe der «kleine Störenfried» auf meinem Arm. Natürlich war da nichts zu sehen gewesen. Weiter habe ich mir vorgestellt: Wenn er da wirklich sässe, was hätte ich ihm dann zu sagen. Dies erzählte ich ihm dann auch, indem ich innerlich mit ihm sprach, so wie man sonst
sich selbst Gedanken erzählt, wenn man etwas gedanklich zu bewältigen sucht. Seine Grösse entsprach der Bedeutung des Geschehens: Er war (für mich) klein, weil ich die Episode selbst als «nebensächlich» einstufte, und weil sein Verhalten mir keinen «gewaltigen», sondern eher einen
lausbubenhaften Eindruck machte. (In dieser Bewertung sollte ich mich täuschen, wie ich erst 15 Jahre später merkte: s. S. 41)

Andreas Heertsch, Geistige Erfahrung im Alltag, Stuttgart 2010 (vergriffen); online: https://sei.mens.ch/?page_id=174 S.27ff und Schlussverweiss S. 41

Schrift und Sinn

Ist das nun Animismus (alles sei beseelt)? Hier ist die Unterscheidung zwischen Schrift und Sinn wichtig: Eine Schrift verweist auf einen Sinn, sie ist sinnvoll, aber sie ist selbst nicht der Sinn sondern nur der Hinweis: Wer das Geschriebene versteht kommt auf den Sinn, das Gemeinte.

Es geht also bei dem Wachwerden für das Besondere darum, diese Ereignisse wie eine Schrift lesen zu lernen, um auf das Gemeinte zu kommen.

Zunächst geht es mir dabei wie bei einem Besuch in einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht verstehe. Ich bemerke, dass jemand mit mir spricht, aber beim Verstehen bin ich zunächst auf Raten angewiesen: was könnte der Sprecher meinen? Ich versuche dann aus allen Indizien zu ahnen, was er meinen könnte. Und das kann erfahrungsgemäss ganz daneben gehen. Ich „verstehe“ das, was ich erwarte, dass gemeint sein könnte. Mit anderen Worten, ich finde im Gehörten meine Erwartung wieder, aber u.U. nicht das tatsächlich Gemeinte. Aber durch sich Einlassen auf die neue Sprache wächst im Laufe der Zeit auch das (zutreffende) Verständnis.

Gleiches geschieht, wenn ich beginne die Sprache der Ereignisse zu lernen. Zunächst sollte ich mit dem Gewicht des „Verstandenen“ vorsichtig umgehen, es könnten bloss meine nach aussen versetzen Erwartungen sein.

Haben alle Ereignisse eine Bedeutung?

Nein! Manche Ereignisse haben gar keine Bedeutung, manche sind Schabernack, manche dagegen haben mehrere Bedeutungungen. Nach meinem Eindruck sind Ereignisse für mich, wenn ich auf sie nicht achte, bedeutungslos. Ich würde sie nicht einmal für Ereignisse halten.

Wenn ich mich aber entschliesse, dem Besonderen Ereigniswert zu verleihen, dass richtet sich nach meiner Erfahrung meine geistige Umgebung darauf ein und ordnet Ereignisse an. Das kann unter ganz verschiedenen Themen stattfinden. Etwa beim Üben von Unbefangenheit.

Als wir vor Jahren in Dornach eine neue Wohnung suchten, stiessen wir auf ein ansprechendes Inserat und machten einen Termin für eine Besichtigung ab. Als ich die Wohnung erblickte, hatte ich den Eindruck: „Hier wirst du alt werden!“ Wir freuten uns also auf die Zusage. Wir erhielten eine Absage! Wie kam also dieser (irrtumsbehaftete) Eindruck zustande? Wir erfuhren, dass in der Wohnung ein alter Herr gerade gestorben war („alt werden“). Dieser Eindruck verband sich mit meinem Wunsch nach Wohnung. Das Altwerden bezog sich also auf den verstorbenen alten Herrn – aber nicht auf mich: Den Anlass (Altwerden) verband ich mit meinem Wunsch: Die Wohnung möchte ich haben!

Schulung ist nicht nur Meditation

Wer beginnt an sich zu arbeiten, wird bemerken, dass diese Arbeit zunächst eher das Gegenteil des Erwarteten bewirkt: Als ob eine Decke, die über den Unrat meiner Seele gebreitet war, langsam weg gezogen würde: Ich finde mich in starkem Kontrast zum Angestrebten vor. Ich halte dies für eine gesunde Folge anthroposophischer Schulung: Wenn ich in mir nicht (auch) meinen Doppelgänger kennenlerne, bin ich meinen unbewussten Erwartungen hilflos ausgeliefert. (Wem die Bezeichnung „Doppelgänger“ zu monströs ist, der kann vielleicht mit der Formulierung: „innerer Player“ besser leben.)

Wegen dieser inneren Deformationen besteht anthroposophische Schulung nicht nur aus Übungen, die die Seele immer mehr für Übersinnliches sensibilisieren (Mediationen), sondern auch aus Übungen, die die Seele stabilisieren (Nebenübungen). Es gibt aber neben diesen beiden Komponenten noch eine dritte: Die Schulung durch das ganz alltägliche Leben. Diese Komponente wird oft übersehen und damit unwirksam gemacht: Von den vielen leisen ganz alltäglichen Hinweisen stolpere ich schliesslich über „last calls“, die (ziemlich) letzten Aufrufe, die wir dann als Schicksalsschläge bezeichnen.

In „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ erwähnt Rudolf Steiner:

Hier muss ich das Zitat noch suchen: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten führt so weit, dass man seine geistige Führung finden kann.

Eine Sprache dieser Führung sind die Alltagsereignisse. Je besser ich diese Sprache verstehe, desto mehr kann ich mir Anweisungen verordnen, die meiner Schulung dienlich sind. Das ist die eine Seite.

Die zweite Seite besteht darin, dass meine geistige Welt auch darauf „reagiert“: Wenn ich meine Aufmerksamkeit den kleinen Ereignissen zuwende, wird sie das nutzen um mit mir „ins Gespräch“ zu kommen.

Wenn ich hier von meiner geistigen Welt schreibe, dann will ich damit zum Ausdruck bringen, dass jeder seine eigene geistige Umgebung hat, die nach oben hin immer mehr ins Allgemein-Menschliche ragt, nach oben offen. Nach unten aber immer individueller und persönlicher wird. Da wohnt der ganze „Zoo“, meine mehr oder weniger üblen Gesellen (Player), die in mein Handeln – mehr oder minder bewusst – eingreifen. Da sind aber auch meine Inspiratoren, die mich etwa im Vortrag-Halten überraschen, wenn ich mir beim Reden selbst zuhöre und merke, dass ich gerade einen „Treffer“ gelandet habe, den ich vorher selber noch gar nicht kannte….

Neben dieser geistigen „Nachbarschaft“ gibt es aber natürlich auch geistige Umwelt, etwa Elementarwesen, die beispielsweise Aufmerksamkeit heischen und – wenn ich mich ihnen nicht widme – Schabernack treiben, etwa indem mir ein grosses Glasgefäss mit Maschinenöl aus der Hand rutscht und am Boden mit grosser Schweinerei zerschellt.

Als ich meinen ersten anthroposophischen Versuch (zu Wärmetag/Wärmenacht aus dem Lichtkurs (GA3xx)) im Max-Planck-Institut für Strömungsforschung in Göttingen machte – ich war damals Assistent am Lehrstuhl – habe ich unfreiwillig über Nacht das(grosse) Labor so unter Wasser gesetzt, dass es durch die Decke in die darunter liegende Elektronik-Werkstatt rieselte. Selbst mein lieber Chef, Ernst August Müller, sagte: „Herr Heertsch, ich habe zwar gesagt, dass jeder seinen strömungsphysikalischen Ritterschlag erst bekommt, wenn er sein Labor unter Wasser gesetzt hat, aber sooo intensiv hätten Sie es nun wirklich nicht machen müssen!“ Bei den Kollegen von der Elektronik-Werkstatt hatte ich meinen Spitznamen weg: „Katastrophen-Heertsch“

Für mich wurde dieses Ereignis Ausdruck für: Solche Versuche: hier NICHT! So habe ich meine Karriere an den Nagel gehängt und bin nach Dornach zu Bockemühl/Maier in Studien- und Forschungsjahr gegangen.

In diesem Gebiet wird die Frage: Was ist Innen, was ist aussen? Immer schwieriger zu Beantworten: Obwohl etwas in meinem Bewusstsein auftaucht, also innen, d.h. in mir, kommt kommt der Inhalt doch nicht von mir. Für die sinnliche Wahrnehmung ist uns das selbstverständlich: sie tritt in meinem Innern (Bewusstsein) in Erscheinung, verwest aber auf etwas ausserhalb von mir, auf das ich sogar zeigen kann. Bei übersinnlichen Wahrnehmungen wird das mit dem Zeigen schwierig: Wo soll ich hinzeigen, wenn mir etwas aufgeht? Sonst aber ist es ähnlich: in mich kommt etwas von „aussen“: ich bringe es zwar hervor oder mit anderen Worten: Ich bin an seinem Zustandekommen beteiligt, aber meine Überraschung zeigt, dass ich nicht alleine war beim Zustandebringen. Also hat da etwas (jemand) mitgewirkt ausser mir.

Syptomatologie: Das Besondere aus dem Allgemeinen herauschälen

Wer das Besondere entdecken will, muss das Allgemeine kennen. Damit wird für unser zeitgenössisches Bewusstsein die Kenntnis jener Welt der Gesetze zur Vorausetzung, um in ihr auf das Besondere aufmerksamwerden zu können. Die Erfahrung zeigt, dass das Besondere geeignet ist, den eigenen Horizont zu erweitern.

Diese Aufmerksamkeit auf geschichtliche Ereignisse angewandt empfiehlt Rudolf Steiner als Methode für die Geschichtsforschung: Er nennt es Symptomatologie2. Wenn wir davon ausgehen, dass Geschichte nicht unerbittlich hereinbricht, sondern durch Menschen in Verbindung mit ihren geistigen Hintergründen sich vollzieht, liegt es nahe, dass hier eine Forschungsmethode erforderlich ist, die in der Lage ist, auf das Individuelle und das dadurch zum Ausdruck Kommende einzugehen.

Wissenschaft des Besonderen

Der hier geschilderte Ansatz ist das Gegenteil von Statistik. In der Statistik wird das Besondere als Störung behandelt. Alle ihre Methoden gehen darauf aus, innerhalb der Störungen das Allgemeine zu finden und zu Aussagen zu kommen, mit welcher Sicherheit man trotz der Störungen (Stichprobenfehler) über die Allgemeinheit Aussagen treffen kann.

Wie also lässt sich Sicherheit in der Welt des Besonderen gewinnen. Ähnlich wie in der Geschichtswissenschaft, aber auch in einzelnen Diszipinien der Sozialwissenschft und in der Psychologie, ist die Wiederholbarkeit kein brauchbares Kriterium für die Entscheidung: Habe ich mir nur etwas eingebildet oder wurde ich einer Wirklichkeit inne?

Hier sehe ich zwei Prüfverfahren:

  • Wachsamkeit beim Zustandekommen
  • Einbettung in den eigenen Erkenntnishorizont (Evidenzgewebe3)

Die Wachsamkeit beim Zustandekommen ist in den Naturwissenschaften ein ganz gebräuchliches Verfahren, nur heisst es dort ganz anders. Wenn wir versuchsweise die eigene Seele als „Messgerät“ für Übersinnliches betrachten, dann können wir viele Analogien zur Entwicklung eines (technischen) Messgerätes finden: So sollte ein Messgerät möglichst empfindlich sein, für das, was es messen soll. (Sensibilität) Es sollte möglichst wenig rauschen. Mit Rauschen wird bei Messgeräten ein im Gerät erzeugtes „Signal“ bezeichnet, dass das zu messende Signal überlagert. Also etwa die alten Rundfunkempfänger, die schwache Sender mit ihrem eigenen Rauschen (fast) unhörbar machen. Diesem Rauschen entsprechen bei der seelischen Beobachtung die Projektionen: Ich „sehe“ (im schlimmen Falle nur), was ich mir, ohne es zu merken wünsche.

, Dieser Beitrag ist noch Entwurf: Hier wird noch einiges kommen…

  1. Maier, G. (1993): Forschung als Hinwendung zur gegenwärtigen Existenz. In: Elemente d. N. 59 ↩︎
  2. Rudolf Steiner: Geschichtliche Syptomatologie ↩︎
  3. Eine Formulierung von Dorian Schmidt ↩︎

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